Tonnenschwere Kunst

Von Sigrid Brinkmann · 18.06.2012
Der argentinische Künstler Adrián Villar Rojas ist erst 32 Jahre alt und schon ein Star auf der diesjährigen documenta. Bekannt wurde er mit seinen gigantischen Skulpturen aus Holz, Stein, Zement und Lehm. In Kassel stellt er neue Arbeiten auf einem Weinberg aus.
"Ich bin ganz ohne jeden Plan hierher gekommen, ohne eine Vorstellung von dem, was ich schaffen würde. Ich hatte einen Produktions- und Kostenplan und eine Wohnung. Ich habe den Berg einfach in mich eindringen lassen. Ich verbringe viel Zeit damit, die materielle Beschaffenheit eines Raums zu erkunden, seine Struktur, seine Vegetation und die räumlichen Veränderungen, die er erfahren hat."

Terrassen und ein verfallenes Gewächshaus erinnern an die frühere Nutzung des Weinbergs. Auf seiner Spitze hat Adrián Villar Rojas in loser Reihe ein Dutzend Glocken aus Ton aufgestellt. Überwölbt wird der unebene Glockenpfad von einer Aussichtsplattform aus Beton. Das Geläut nahegelegener Kirchen inspirierte Adrián Villar Rojas zu dieser Installation. Jede der etwa 100 Kilo schweren Plastiken hat eine andere Form. Wenn er von seinem Lieblingsmaterial, dem Ton, spricht, klingt der sichtlich erschöpfte Künstler mit den staubigen Arbeitsschuhen gleich entspannter:

"Du kannst Glocken aus Ton fertigen, Brücken bauen, menschliche Figuren schaffen. Dieser Rohstoff ist unglaublich geschmeidig, und aus ihm haben Menschen vor langer Zeit die ersten Dinge geformt: Vasen und Becher. Mit diesem Material kann man sich sehr gut auf eine Zeitreise begeben."

Wie ein prähistorischer Fund wirkt der acht Meter lange Tonknochen, den der schmächtige Mann aus der Hafenstadt Rosario auf dem Weinberg platziert hat; eine ferkelsäugende Frauenfigur hockt darauf. Villar Rojas ist fasziniert von der Evolutionsgeschichte. Manche seiner Skulpturen gleichen menschlich-tierischen Mutationen. Auf der documenta zitiert der Künstler auch Erfindungen wie das Boot oder das Zahnrad. Er hat ein großes, scharfzackiges Rad aus grauem Ton mit Eisenbügeln verstärkt und auf einen schmalen Balken gesetzt.

"Wenn ich arbeite, dann wie ein Besessener. Ich beschränke mein Leben ansonsten auf ein Minimum: essen und schlafen. Sonst nichts. In dem Punkt bin ich unnachgiebig: Wer mit mir arbeiten will, muss das akzeptieren. Ein paar Leute gehen nachts noch aus, aber ich tue es nicht, weil von mir ein Maximum an Konzentration gefordert wird."

Adrián Villar Rojas ist vor 100 Tagen nach Kassel gekommen. Er wollte so lange an Werken arbeiten wie die documenta dauert. 18 Leute haben an seinen Skulpturen mitgearbeitet. Seine Lebensgefährtin und nahe Freunde sieht er monatelang nicht. Vermisst er sie?

"Meine Freundin ist auch Künstlerin und arbeitet viel. Ich find's gut, dass sie sich - genauso wie ich - darum kümmert, dass es ihr gut geht. Wenn ich an einem Projekt arbeite, habe ich einfach für nichts anderes Zeit und Kraft. Du musst dich schließlich auch um die Leute kümmern, die mit dir arbeiten und emotional nicht immer ausgeglichen sind. Manche haben Familie. Du musst für die Ernährung sorgen, den täglichen Transport, und zusehen, dass alle gesund bleiben und so weiter."

Mit einem Finger rückt Adrián Villar Rojas die große Sonnenbrille zurecht. Der Kontrast zwischen seinem lässigen Auftreten und dem geradezu väterlichen Gestus gefällt mir. Der 32-jährige Künstler ist ein ernsthafter Arbeiter, aber jetzt, wo alles geschafft ist und die vielen fragilen, zum Teil auch schweren Tonplastiken aufgestellt sind, könnte er sich doch eigentlich zurücklehnen. Aber nichts scheint ferner als das. Warum?

"Ich bin ein wenig kopflos und muss langsam wieder Verbindungen zu anderen aufnehmen. Wochenlang habe ich immer nur mit denselben Leuten geredet und nun treffe ich auf andere Menschen. Ich muss mich als Person erstmal wieder aufbauen und in die Wirklichkeit zurückkehren."

Wenn er nach Buenos Aires zurückkommt, hört Adrián Villar Rojas Musik von Radiohead und Elliott Smith, er beantwortet Mails, verbringt Zeit mit seiner Freundin, zieht nachts um die Häuser und schmökert auch mal Comics. Schließlich wollte er als Kind nichts lieber als Comiczeichner werden. Was nach den 100 Tagen der documenta aus seinen Werken wird, weiß er nicht. Und da er kein Atelier besitzt, gibt es auch keinen Ort, an dem sie aufbewahrt werden können. Was Adrián Villar Rojas ungemein freut:

"Das ist super befreiend! Mir gefällt es, dass die Projekte endlich sind und dass es keinen Markt dafür gibt. Nur das: Man stellt Skulpturen auf, lässt sie zurück und schaut, was mit ihnen passiert."

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