Tomatenbauer in Zeiten der Globalisierung

Die Zahlen stimmen – aber sonst nichts

Tomaten-Ernte in der Stadt Dos Hermanas in Andalusien in Spanien
Tomaten-Ernte in der Stadt Dos Hermanas in Andalusien in Spanien © imago/Westend61
Von Martin Ahrends · 30.08.2018
Nicht alles lässt sich in Zahlen messen – das gilt gerade auch für die globalisierte Wirtschaft. Der Publizist Martin Ahrends hat über Tomatenbauern nachgedacht und fragt sich: Was ist der Preis des Wirtschaftswachstums? Das, was sich nicht in Zahlen ausdrücken lässt?
Ich höre, wie viel ein afrikanischer Tomatenbauer verdiente, bevor er seinen Broterwerb wegen billiger Importe aufgeben musste. Umgerechnet in Euro sei das soundso viel, höre ich und denke: zu wenig. Ein vorschnelles Urteil, denn ich habe keine Ahnung davon, wie dieser Mensch sein Leben bestreitet, was es für ihn bedeutet, sich dieses leisten und jenes nicht leisten zu können. Was er braucht, was ihn glücklich macht. Was ihm wichtig ist und was nicht.
Nichts weiß ich von ihm, aber die Zahl tut so, als müsse ich das alles gar nicht wissen, sie hat diese Gewissheitsaura, sie ist so schön präzise. Sie lässt sich mühelos umrechnen und man braucht sie nicht zu übersetzen. Denn Zahlen sind eine Weltsprache.

Was die Zahlen nicht erzählen

Auch in das Leben eines um seine Existenz ringenden griechischen Tomatenbauern werde ich mich nie und nimmer hineinversetzen können, und meine Medien tun so, als müsste ich das gar nicht, denn es gibt ja die Zahlen. Die sprechen für sich, die lügen nicht, die liefern belastbare Fakten. Und sind so viel leichter zu verstehen als das Leben, das hinter ihnen steht.
Doch was mir die Zahlen von den Griechen erzählen, ist nur, ob sie – wie es heißt – "ökonomisch auf die Beine kommen". Was ich aus den Zahlen nicht erfahre, ist der Preis, den sie dafür bezahlen. Und mit "Preis" ist hier ausnahmsweise keine Zahl gemeint.

Währungen sind wie Sprachen

Währungen sind wie Sprachen. Wie man das landesübliche Geld verdienen, was man damit bezahlen kann, hat wie jede Sprache mit der landesüblichen Lebensweise zu tun, mit Kulturen, Traditionen, die sich nicht gleichsetzen und nur annähernd vergleichen lassen in einem Wechselkurs.
Wie man Gedichte nicht in fremde Sprachen übertragen kann, ohne sie zu beschädigen, so kann man Währungen nicht "übersetzen", ohne dabei von ihrem eigentlichen Sinn zu abstrahieren: der Vermittlung innerhalb einer gewachsenen Kultur. Manches kann man in fremden Sprachen nur schwer oder gar nicht ausdrücken, manches in fremden Währungen schwerlich bezahlen. Das hat seinen Grund und seinen Sinn.
Gewachsene Währungen sind so unvollkommen konvertierbar wie gewachsene Sprachen, es sei denn man abstrahiert von dem, was sie in ihrer langen Entwicklung an Differenz gewonnen haben. Gewonnen, denn Differenz ist evolutionärer Gewinn, kann allerdings als Hindernis erscheinen, wo es etwa um die weltweite Verbreitung industrieller Massenprodukte geht. Der Turmbau zu Babel, ein Akt der Egalisierung, bleibt das Denkmal eines Irrwegs. Danach, heißt es in der Bibel, seien die Völker über die ganze Welt verstreut worden. Zu ihrer Differenz befreit.

Die Zahlen stimmen – sonst nichts

Wird eine Währung abgeschafft, dann schafft man auch die dazugehörige Lebensweise ab. Ganz allmählich, medial nahezu unsichtbar. Ich erinnere mich an meinen letzten Spanienbesuch: Auf dem Hügel der Stadt, den dereinst eine Kapelle krönte, thront jetzt das riesige, nachts angestrahlte Logo einer deutschen Supermarktkette.
Die örtlichen Bauernmärkte werden vom Sog der eingeführten Billigwaren ausgetrocknet, die örtliche Landwirtschaft zur billigen Massenproduktion für die Handelskette genötigt.
Der afrikanische Bauer pflückt jetzt neben dem griechischen in Andalusien Tomaten für ganz Europa. Und für Afrika. Hier werden auf Riesenarealen unter Plastikfolien auf Teufel komm raus Tomaten produziert, die gut zu transportieren sind und kaum genießbar. Für einen kurzfristigen Profit werden gewachsene Agrarkulturen geopfert, werden durch immensen Wasserbedarf ganze Landstriche der Verödung preisgegeben.
Was ich von diesem Irrsinn aus meinen Medien erfahre, sind positive Zahlen. Die Zahlen stimmen wieder, höre ich, Spaniens Wirtschaft wächst. Und mir stehen die Haare zu Berge.

Martin Ahrends, Autor und Publizist, geboren 1951 in Berlin. Studium der Musik, Philosophie und Theaterregie. Anfang der 80er-Jahre politisch motiviertes Arbeitsverbot in der DDR. 1984 Ausreise aus der DDR. Redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit und seit 1996 freier Autor und Publizist.


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