Tomás González

    Von Tobias Wenzel · 30.08.2013
    Warum bereut Tomás González heute, dass seine verstorbene Schwester eingeäschert wurde? Und inwiefern wird er auf dem Friedhof lautstark an seine zwei ermordeten Brüder erinnert?
    Tomás González betritt zum ersten Mal den überschaubaren Friedhof seiner Gemeinde Chía, unweit der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá. An den Marmorplatten einiger Nischengräber ist eine winzige, bunt bemalte Finca aus gebranntem Ton befestigt: mit angedeuteten Dachziegeln und einer Veranda:

    "Da können die Toten heraustreten, um die Landschaft zu genießen."

    An den Grabplatten dreier jung verstorbener Männer hängen die Wappen der Fußballvereine von Bogotá und Cali.

    "Mich berührt das sehr. Das hat etwas Zärtliches, so den Kontakt mit dem verstorbenen geliebten Menschen aufrechtzuerhalten. So bleibt der Tote bei ihnen. Ein Mensch stirbt erst dann richtig, wenn keiner mehr sein Grab pflegt, wenn sich niemand mehr an ihn erinnert."

    Für sich selbst und seine eigene Familie hatte Tomás González lange keine Bestattung mit Grab im Sinn. Bis zum Tod seiner Schwester:

    "Meine Schwester ist vor drei Jahren gestorben. Sie war gesund. Und plötzlich kam dieser heftige Herzinfarkt. Zwei Tage später haben wir sie eingeäschert und die Asche verstreut. Mir ging das alles viel zu schnell: Gerade war sie noch da, und dann war sie mit einem Mal verschwunden. Mit einem Grab hätte sich das vielleicht nicht so abrupt angefühlt, so brutal."

    Wir gehen zum hinteren Teil des Friedhofs. Hier hat man einen ungehinderten Blick auf Weideland und einen sanft geschwungenen Berg mit Eukalyptus-Bäumen.

    "Sieh mal! Wie schön!"

    Tomás González hat Gräber entdeckt, die unter Wasser stehen. Kreuze und Gedenksteine in Schieflage ragen aus einem Teich:

    "Ich glaube, das ist eine ungewollte Überschwemmung. Da fehlen jetzt nur noch die Seerosen."

    In seinem Debütroman "Am Anfang war das Meer" beschreibt González die versöhnlich wirkende Überschwemmung eines Friedhofs. Nun ist es, als wäre seine Fantasie Wirklichkeit geworden.

    Tomás González auf dem Friedhof von Chía
    Tomás González auf dem Friedhof von Chía© Tobias Wenzel

    "Das ist wunderschön. Das zeigt, dass es nichts Beständiges gibt, nicht mal, wenn es um den Tod geht. Alles ist ein Meeresstrom. Selbst die Grabsteine, die so stabil wirken, bewegen sich wie Holz im Wasser. So sehe ich das Universum: als einen Strom, der nichts unbewegt lässt. Die Illusion der Beständigkeit zerbricht irgendwann. In diesem Abschnitt des Friedhofs wird einem das sofort klar."

    Auf meine Bitte hin liest González auf dem Friedhof von Chía eine Passage aus seinem Roman "Die versandete Zeit". Eine Exhumierungsszene: Ein Totengräber öffnet mit einem Meißel ein Nischengrab:

    "... puso al ayudante a aventar con rapidez pedazos de ladrillo a una carretilla de mano."

    Tomás González blickt irritiert von seinem Buch auf. Auf dem Friedhof von Chía starren sechs Menschen, zwei davon mit Mundschutz, auf eine Grabnische. Der Friedhofswärter versucht, die Grabplatte mit Schlägen auf einen Meißel zu lösen. Eine Frau sitzt an einem Tisch und führt Protokoll. In Kolumbien werden jedes Jahr 50.000 Menschen ermordet. Für Tomás González ist das mehr als nur eine Zahl. Auch zwei seiner Brüder starben eines gewaltsamen Todes.

    "Sieht aus, als ob sie eine Leiche herausholen, um sie einer Autopsie zu unterziehen. Gerichtlich angeordnet. Das hängt wohl mit einer Untersuchung der Polizei zusammen."

    Wieder ist es, als ob der Friedhof die Literatur des Autors inszeniert. Tomás González fehlen die Worte. Unglaublich kommt ihm das alles vor. Und auch ein bisschen unheimlich.

    "Tomás González, Cementerio de Chía, Colombia"