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Zum Tod des Historikers und Publizisten Walter Laqueur
Skeptiker und Zeitzeuge

Er war ein scharfzüngiger Streiter und brillanter Analytiker: Der Historiker und Publizist Walter Laqueur ist im Alter von 97 Jahren gestorben. Geboren als Sohn jüdischer Deutscher in Breslau emigrierte er 1938 nach Palästina. Bekannt wurde er als Historiker des Kalten Krieges und des Terrorismus.

Von Wolfgang Stenke | 01.10.2018
    Der Historiker, Autor und Terrorismus-Experte Walter Laqueur am 22.11.2001 in der ZDF-Sendung "Berlin Mitte". Walter Laqueur, geboren 1921 in Breslau, 1938 nach Palästina emigriert, lebte in London und Washington bis zu seinem Tod am 30.09.2018.
    Der Historiker, Autor und Terrorismus-Experte Walter Laqueur in einer Aufnahme aus dem Jahr 2001 (dpa / Zentralbild / Klaus Franke)
    "Der Gedanke, dass man überhaupt den Terrorismus völlig vernichten kann, ist unsinnig. Genauso wie Verbrechen werden von der Welt nicht verschwinden - weder Mord, noch Diebstahl, noch Sittlichkeitsverbrechen, noch weiß ich was."
    Der "Krieg gegen den Terror", den US-Präsident George W. Bush nach den Attentaten vom 9. September 2001 ausrief, war für den großen Skeptiker Walter Laqueur ein Unding. Von den mehr als 60 Büchern, die Laqueur in seinem langen Gelehrtenleben veröffentlicht hat, widmete er acht dem Thema "Terrorismus". Sehr wohl bewusst war ihm, dass rechtsstaatliche Demokratien auch unter terroristischer Bedrohung an das Gebot der Verhältnismäßigkeit gebunden sind. 1977, als die Entführung und Ermordung Hanns Martin Schleyers durch die "Rote Armee Fraktion" die Bundesrepublik an den Rand des Ausnahmezustands brachte, erklärte Walter Laqueur:
    "Der Terrorismus kann von einer fünftrangigen Diktatur unterdrückt werden. Dass der Terrorismus unterdrückt werden kann, ist keine Frage. Die Frage ist nur, was für ein Preis wird dafür bezahlt. Und hier sind wir alle natürlich der Meinung, hoffe ich, dass ein Minimum der Verletzung, wenn notwendig, der Grundrechte des Bürgers stattfindet. So wenig wie möglich."
    Emigration nach Palästina
    Den angelsächsischen Pragmatismus hat Walter Laqueur sich als junger Erwachsener in Washington und London angeeignet. Geboren wurde der Sohn linksliberaler jüdischer Eltern 1921 in Breslau. Er war ein begabter Schüler, durfte eine Klasse überspringen und beendete das Breslauer Johanneum schon mit 16. Politisch und kulturell sehr interessiert, hatte Laqueur schon früh Kontakt zu bündischen und kommunistischen Jugendgruppen; er boxte in einem jüdischen Sportverein. Einen Tag vor den Pogromen vom 9. und 10. November 1938 verließ er Breslau - Richtung: Palästina. Seine Eltern blieben in Deutschland zurück, sie wurden ermordet.
    Mit Unterstützung eines Onkels studierte Laqueur für ein Jahr an der Hebräischen Universität Jerusalem. Von 1939 bis 1944 lebte er als Landarbeiter in einem Kibbuz in der Nähe von Haifa. Wegen seines großen Interesses an russischer Geschichte, dem Kommunismus und der Sowjetunion lernte er Russisch von seinen Mit-Kibbuzniks.
    Einen akademischen Abschluss hat er nie erworben. Laqueur wurde auch so ein herausragender Gelehrter, Experte für Themen der europäischen Geschichte und des Nahen Ostens. Die Fähigkeit, sich unter widrigen Bedingungen durchzusetzen, teilte er mit einer ganzen Generation junger Juden, die vor dem NS-Regime in alle möglichen Weltregionen hatten emigrieren müssen. In seinem Buch "Geboren in Deutschland" hat Walter Laqueur diese Generation so charakterisiert:
    "Sie ergriffen jeden denkbaren Beruf bis zum Benediktinerabt, hinduistischen Guru und westafrikanischen Stammeshäuptling. Im Großen und Ganzen waren sie dabei erfolgreich, vielleicht, weil sie bei Null anfangen mussten, weil ihnen niemand half, weil es kein Geld, keine Beziehungen gab. Sie mussten entweder schwimmen oder untergehen."
    Berater großer Denkfabriken
    Entsprechend diesem Muster hat Walter Laqueur selbst seine Nachkriegsexistenz aufgebaut. Nach der israelischen Staatsgründung bereiste er den Nahen Osten und schrieb für europäische Zeitungen über die Region. Europa, das er mit 17 hatte verlassen müssen, erkundete Laqueur ab Beginn der 1950er Jahre journalistisch. Analysen der internationalen Politik – insbesondere mit Bezug auf die Sowjetunion - wurden in den Jahren des Kalten Krieges sein Arbeitsfeld.
    Der "Kongress für kulturelle Freiheit", eine von CIA-Geldern gespeiste Organisation antitotalitär denkender Intellektueller, finanzierte ihm das Nachrichtenmagazin "Soviet Survey". Die Zeitschrift begründete den exzellenten wissenschaftlichen Ruf des Autodidakten. Bald beriet er die großen Denkfabriken und lehrte Zeitgeschichte in London und Washington. Zusammen mit dem Historiker George Mosse gab er das "Journal of Contemporary History" heraus.
    Laqueurs Studien behandelten die deutsche Jugendbewegung und die Republik von Weimar, den Holocaust, europäische Geschichte und Politik, den Nahen Osten - und immer wieder die Entwicklung in Russland, von Stalin und Chrustschow über Gorbatschow bis zu Putin. Auch das Thema "Terrorismus" ließ diesen Historiker nicht los.
    Laqueurs Leben umfasste den größten Teil des blutigen 20. Jahrhunderts. Ob Europa und der Westen im 21. Jahrhundert die Herausforderungen der Globalisierung bestehen würden, daran hatte dieser skeptische Intellektuelle seine Zweifel. Wenn er die Wahl gehabt hätte, so schrieb Laqueur in seiner Autobiographie, dann hätte er ohnehin das 19. Jahrhundert vorgezogen:
    "In meiner Zeit gab es für meinen Geschmack zu viel Politik, zu viele Ereignisse von historischer Bedeutung und zu wenig Kultur, Unterhaltung, joie de vivre."