Toleranz heute

Von Kardinal Karl Lehmann · 27.03.2005
Das Wort Toleranz wird besonders seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gebraucht. Das Problem gab es auch in früheren Zeiten, wenn man zum Beispiel im römischen Weltreich viele Völker mit unterschiedlichen Religionen einigermaßen friedlich integrieren musste. In der frühen Neuzeit hat sich auch in Europa nicht zuletzt durch die Vielzahl und das strittige Nebeneinander christlicher Konfessionen das Problem verschärft.
Toleranz hat in diesem Zusammenhang einen vielfältigen Sinn. Es bedeutet zunächst, vor allem im Blick auf Überzeugungen Verschiedenartiges ernst zu nehmen und ihre Andersartigkeit gelten zu lassen. Dies kann sich jedoch sehr verschieden gestalten. Es kann ein bloß vorübergehendes Zugeständnis sein, das man bloß taktisch macht. Toleranz kann aber auch eine Form des Hinnehmens oder des Zulassens sein, die letztlich von Desinteresse und Gleichgültigkeit zeugen. Toleranz kann aber auch über das bloße Ertragen - dies ist ja die ursprüngliche Bedeutung des lateinischen Wortes - hinausgehen. Dann bringt man einer anderen, vielleicht sogar entgegenstehenden Meinung gegenüber Achtung zum Ausdruck. Schließlich hat dies grundlegend etwas mit der Freiheit der Person zu tun. Toleranz achtet darum die freie Entscheidung anderer Menschen, Gruppen, Völker, Religionen, auch andere Denk- und Sichtweisen, Lebensstile und Lebensformen. So ist die Geltung der Toleranzforderung weit über den engeren politischen Bereich hinausgewachsen.

Toleranz ist heute nicht mehr das einzige Wort für die gemeinte Sache. In unseren Verfassungen werden verschiedene Freiheiten garantiert, so zum Beispiel das Recht auf Meinungs- und Religionsfreiheit. Es gibt in der Toleranz das Recht, anders zu sein und so mit dem Anderen zu leben. Es besteht nicht mehr der Zwang, sich der Meinung und Überzeugung auch einer Mehrheit zu unterwerfen. Die Unterschiede unter den Menschen, die oft mit Gewalt beseitigt worden sind, werden zivilisiert. Es gibt nicht nur die Möglichkeit des mehr oder minder lästigen, unwilligen "Ertragens" abweichender Anschauungen und Gemeinschaften. Echte Toleranz ist auch bereit, Gegensätze auszuhalten und Konflikte friedlich auszutragen. Im gesellschaftlichen Dialog gibt es bei aller Toleranz gewiss auch die Möglichkeit des Widerspruchs und auch verschiedener Formen des Widerstandes, zum Beispiel in gewaltfreier Form.

Darum ist es auch nicht leicht, echte Toleranz einzuüben. Auch in unseren von der Aufklärung und Kritikfähigkeit geprägten Gesellschaften ist es für weite Teile der Bevölkerung immer noch schwierig, das Andersartige und das Fremde, vor allem aber auch fremde Menschen aufzunehmen und gelten zu lassen. Hier kann Toleranz manchmal eine sehr herablassende Haltung bedeuten. Die Intoleranz versteckt sich manchmal hinter Gleichgültigkeit, bricht aber bei provokativen Herausforderungen durch Fremdes plötzlich durch.

Wir brauchen eine neue Kultur der Anerkennung des Anderen und Fremden. Dies kann man aber wirklich nicht leisten, wenn man im Blick auf die Wahrheitsfrage einen prinzipiellen Relativismus vertritt. Es geht nicht darum, dass jemand im Besitz absoluter Wahrheiten ist, sondern dass ein Anspruch auf Wahrheit überhaupt anerkannt wird und gültig ist. Darum ist in einer modernen Gesellschaft, die grundsätzlich durch den Pluralismus gekennzeichnet ist, der verbindliche Dialog verschiedener geistiger, ethischer, spiritueller und religiöser Überzeugungen wichtig, damit mitten in aller Toleranz das Gemeinwesen auch verbindliche Maßstäbe ("Grundwerte") bereithält, um ein Minimum gemeinsamer Grundannahmen, vor allem im Blick auf das Ethos, zu gewährleisten. Dafür braucht es die Duldung anderer geistiger Standpunkte, aber eben auch den Mut zur Aufrechterhaltung und Verteidigung des eigenen Standortes, wozu Argumentation und Dialog die vorzüglichsten Mittel und Wege sind.

Kardinal Karl Lehmann, geboren 1936 in Sigmaringen, zählt zu den führenden deutschen Kirchenpersönlichkeiten. Nach seiner Promotion in Rom war er Professor an den Universitäten Mainz und Freiburg. Seit 1983 ist er Bischof von Mainz, seit 1987 in dritter Amtsperiode Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz. Lehmann, der bei der Verleihung der Kardinalswürde offenbar wegen seines gemäßigt-liberalen Kurses mehrere Jahre übergangen worden war, wurde im Februar 2001 vom Papst zum Kardinal ernannt, was als kirchenpolitisches Signal und Aufwertung Lehmanns in der inneren Hierarchie der katholischen Kirche gewertet wurde.