Todeskuss im Mondenschein

Von Cornelia Staudacher · 24.07.2010
Nixen, Nymphen und Wasserfrauen bezaubern und verlocken, erschrecken und verführen die Menschen seit jeher. Über Paracelsus, über mittelalterliche Ritterromane und Volksbücher haben sie ihren Eingang in die europäische Literatur der Neuzeit gefunden.
Jean d'Arras verfasste 1192 einen Prosaroman über die Geschichte des Hauses Lusignan und seine geisterhafte Ahnfrau Melusigne. Ihm folgte 200 Jahre später, um 1400 ein nicht näher bekannter Couldrette, der ein Versepos zum selben Thema schrieb. Die Couldrettesche Version wurde 1456 durch Thüring von Ringoltingen, einen Berner Patrizier, in altdeutsche Prosa übertragen.

Die Romantiker mit ihrer Vorliebe für mittelalterliche und altdeutsche Literatur und ihrer Sehnsucht nach Verschmelzung des Menschen mit der Natur nahmen sich des Motivs der Wasserfrau, die erst durch die Verbindung mit einem Menschenmann einer Seele und göttlicher Gnade teilhaftig wird, besonders gern und in vielerlei Ausprägungen an. Seit Beginn des 19. Jahrhunderts erlebt der Melusinen- und Undinenstoff eine Renaissance in den unterschiedlichsten Gattungen und Genres, auch in den Bildenden Künsten. In Gedichten, Novellen und Erzählungen wird die Schönheit und verführerische Kraft der Melusinen und Undinen besungen, aber auch die von ihrer Abstammung aus dem Reich des Wassers herrührenden übersinnlichen und gefährlichen Fähigkeiten. Die bekannteste ist die Erzählung, "Undine" des 1777 in Brandenburg geborenen und 1843 in Berlin gestorbenen Friedrich de la Motte Fouqué. Er versetzt die Geschichte der Liebe Undines zum Ritter Huldbrand aus der Mythen- und Märchenwelt in eine historisch reale Umgebung. Die Erzählung wurde sogleich zweimal vertont, von E.T.A. Hoffmann und Albert Lortzing.

Auch Ludwig Tiecks "Sehr wunderbare Historie von der Melusine" entsteht in dieser Zeit. Ob sie nun Melusine, Undine oder schöne Lau heißen - der mit ihnen in Verbindung tretende, sich souverän wähnende Menschenmann Reymund, Huldbrand oder - wieder ein Jahrhundert später - Hans steht am Ende als Verlierer da. Unfähig, mit den Kräften der Natur angemessen umzugehen, ruiniert er nicht nur die Wasserfrau, sondern richtet sich auch selbst zugrunde.

Goethe vollzieht in seiner Novelle "Die schöne Melusine" eine ironische Brechung der romantischen Vorstellung, indem er Melusine zur Zwergin werden lässt, die in einem kleinen Kästchen Platz findet, das die Melusine in Menschengestalt dem Ich-Erzähler zur Verwahrung anvertraut. Im Kampf des Menschenmannes zwischen Begehren und Angst obsiegt auch hier die Angst, im Falle einer festen Bindung selbst verzwergen zu müssen. Aber mit List hat die Zwergenmelusine trotz der Rückverwandlung ihres Geliebten in Menschengestalt ihr Ziel erreicht: Sie ist schwanger.

Im Verlauf de 19. Jahrhunderts wird Melusine zur Projektionsfläche der Sehnsüchte und Ängste des Mannes vor dem Weib und zur Verkörperung der verloren gegangenen Einheit von Begehren und Liebe, von nymphenhafter Geliebter und bürgerlicher Ehefrau. Bei Fontane tritt sie als intellektuelle, kreative Persönlichkeit mit besonderer, häufig musikalischer Begabung und einer irritierenden erotischen Ausstrahlung in Erscheinung. Um die Jahrhundertwende vom 19. Zum 20. Jahrhundert fand die Vorstellung der literarischen Frauenfigur Melusine und Undine als eine aquatische femme fatale, eine fischgeschwänzte Nixe, die die Männer durch ihre Schönheit verführt und ins Verderben lockt, auch in zahlreichen bildnerischen Darstellungen ihren Niederschlag.

Ingeborg Bachmanns Erzählung "Undine geht" (1961) ist die wohl bekannteste Bearbeitung des Motivs in der zeitgenössischen Dichtung. Bachmanns Geschichte ist ein langer innerer Monolog Undines und eine Anklage gegen die Menschenmänner, die im Vorwurf des Verrats mündet: "Verräter! Wenn Euch nichts mehr half, dann half die Schmähung." Angeregt durch die Freundschaft mit Ingeborg Bachmann schrieb Hans Werner Henze 1957 eine Ballettmusik zu "Undine", die in der Choreographie von Frederick Ashton eine der großen Rollen von Margot Fonteyn wurde. Auch in Jean Giroudoux` ironisch gebrochenem Märchenspiel "Ondine" (1939) steht die Unfähigkeit des Menschenmannes, der Natur eines weiblichen Wasserwesens und seiner Liebesfähigkeit gewachsen zu sein, im Zentrum. Die Konventionen sind stärker als die Liebe. Die Männer seien "Ungeheuer an Selbstsucht" sagt Ondine.


Zu weiteren Erläuterungen aus literaturgeschichtlicher, literaturwissenschaftlicher und psychologischer Sicht sind in der ersten Stunde der Langen Nacht die Germanistin Anke Bennholdt-Thomsen, in der zweiten der Mediävist und Germanist Andreas Kraß und in der dritten Stunde der Familientherapeut Hans Jellouschek eingeladen worden.

Johann Wolfgang Goethe, Der Fischer

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach der Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt, und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor;
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.

Sie sang zu ihm sie sprach zu ihm:
"Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach wüsstest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.

Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht,
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew'ger Tau?"

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Netzt' ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll,
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war's um ihn geschehn:
Halb zog sie ihn, halb sank er hin,
Und ward nicht mehr gesehn.



Anke Bennholdt-Thomsen, Prof. Dr. phil., geb. 1937 in Frankfurt a. Main, lebt als Prof. a.D. für Neuere deutsche Literatur an der Freien Universität in Berlin. Schwerpunkte ihrer Forschung und Lehre bildeten Literaturtheorie, Literaturwissenschaft und Psychoanalyse, Literaturgeschichte des "Asozialen", Theorie und Geschichte des Briefes sowie Lyrik, insbesondere Hölderlin und Lyrik nach 1945. Sie ist Vorstandsmitglied der Hölderlin-Gesellschaft und Herausgeberin der Analecta Hölderliana. Weitere Werke: Der Asoziale in der Literatur um 1800; Hölderlin und Pindar; Nietzsches Also sprach Zarathustra als Literarisches Phänomen: Eine Revision; Wechsel der Orte: Studien zum Wandel des literarischen Geschichtsbewusstseins. Festschrift für Anke Bennholdt-Thomsen.
Informationen von der FU Berlin
und bei der Hölderlin-Gesellschaft

Andreas Kraß
geb. 1963 in Schermbeck am Niederrhein, lehrt seit 2004 als Professor für Ältere Deutsche Literatur an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.
Werke: Stabat mater dolorosa. Lateinische Überlieferung und volkssprachliche Übertragungen im deutschen Mittelalter; Begehren und Bündnis. Ein Symposium über die Liebe. Hg. v. Andreas Kraß und Alexandra Tischel; Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität. Hg. v. Andreas Kraß; Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel.

Soeben erscheinen: "Meerjungfrauen. Geschichten einer unmöglichen Liebe". S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010.
Andreas Kraß bei Wikipedia


Hans Jellouschek
geb. 1939, ist Leiter und Gründer einer Fortbildungs- und Psychotherapiepraxis, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Einzelpersonen, Paare, Gruppen und Organisationen bei Veränderungen zu unterstützen und zu begleiten. Weitere Informationen unter:



Anthologien:

Von Nixen und Brunnenfrauen.
Märchen des 19. Jahrhunderts
hrsg. v. Henriette Beese
Frankfurt/M., Berlin, Wien 1982

Undinenzauber.
Geschichten und Gedichte von Nixen, Nymphen und anderen Wasser-frauen,
hrsg. v. Frank Rainer Max,
Einleitg. v. Eckart Kleßmann
Stuttgart 1991, Neuausgabe 2009

Die Wasserfrau
Von geheimen Kräften, Sehnsüchten und Ungeheuern mit Namen Hans
hrsg. v. Hanna Moog,
Köln 1987


Einzelwerke:

Jean d`Arras: Mélusine.
Roman du XIV. siècle publié par Luis Stouff,
Dijon und Paris 1932

Couldrette
Le Roman de Mélusine ou Histoire de Lusignan par Couldrette
éd. par Eleanor Roach, Paris 1982

Thüring von Ringoltingen
Melusine
Nach den Handschriften
krit. hrsg. v. Karin Schneider
Berlin 1958

Thüring von Ringoltingen
Melusine
In: Jan-Dirk Müller (Hrsg.):
Romane des 15. und 16. Jh.
Frankfurt am Main 1990

Thüring von Ringoltingen
Melusine
Hrsg. v. Hans-Gert Roloff.
Stuttgart 2000

Johann Wolfgang von Goethe
Die neue Melusine (in: Wilhelm Meisters Wanderjahre)
In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden.
Hrsg. von Erich Trunz, Bd. 8
München 1981

Ludwig Tieck
Die sehr wunderbare Historie von der Melusina
In: Nachgelassene Schriften. Auswahl und Nachlese
Hrsg. von Rudolf Köpke.
Leipzig 1855 (Reprint-Ausgabe in der Arno-Schmidt-Referenzbibliothek, 2007)

Friedrich de la Motte Fouqué
Undine
Eine Erzählung
Stuttgart 1990 (RUB 491)

Eduard Mörike
Historie von der schönen Lau (Teil des Märchens vom Stuttgarter Hutzelmännlein)
In: Eduard Mörike, Sämtliche Werke.
Hrsg. von Herbert G. Göpfert,
5. Auflage, München 1976

Theodor Fontane
Der Stechlin
Roman
Hrsg. von Helmuth Nürnberger
Darmstadt: Wiss. Buchges. 1994 (RUB 9910)

Theodor Fontane
Oceane von Parceval
In: Theodor Fontane, Tuch und Locke
Erzählungen aus dem Nachlaß.
Hrsg. von Walter Keitel
Stuttgart 1966 (RUB 8435)

Jean Giroudoux
Undine
Drama (franz. 1939)
übertr. v. Hans Rothe
Stuttgart 1964 (RUB 8902)

Ingeborg Bachmann
Undine geht
In: Ingeborg Bachmann
Das dreißigste Jahr
Gesammelte Erzählungen
München 2005 (Serie Piper 4550)

Hans Werner Henze
Undine
Tagebuch eines Ballets
München 1959



Musik

Girolamo Kapsberger, Arpeggiata addio

Dan Dediu, Idylle für Dulcinée

Markku Luolajan, Sleepwalk aus "Musica Ambigua"

Jean-Claude Chapuis, Luminiscence

Klaus Bruder, Cheng

E.T.A. Hoffmann, Ouvertüre zu "Undine"

Albert Lortzing, Rezitativ und Arie der Undine (2. Aufzug) aus "Undine"

Mats Eden, Haväng

Karl Reinecke, Allegro aus Sonate e-moll op. 167, "Undine"

Clara Schumann/Heinrich Heine, Lorelei

Antonin Dvorak, "Lied an den Mond" aus "Rusalka"

Maurice Ravel, "Ondine" aus "Gaspard de la nuit"

Robert Schumann/Eichendorff, Frühlingsfahrt

Didier Francois, Le vieux corsaire de flandres

Hans Werner Henze, 4. Satz aus "Streichquartett Nr. 5"

György Ligeti, Le grand macabre

Franz Liszt, Loreley

Alexander von Zemlinsky, Die Seejungfrau

Hans Werner Henze, Undine (Ballettmusik)


Peter Rühmkorf

Zieh sie an Land,
die säuselnde Sirene;
frag nicht, wer dich belügt -
Ein Kopf voll Haare und das Maul voll Zähne
genügt.

Schmeckt nur die Brust nicht schal;
wo hätte Wahnsinn je das Glück gemindert?
Du - krank im Geiste
und sie gehbehindert,
egal - egal.

Der Wind zieht an und schleift die Wolkenreiche;
l a n g s a m
steigt dir der Whisky
zum Zenit.
Wer weiss - du nicht - ob auf der Knochenbleiche
nochmal die Primel blüht.

Ob das nochmal zuhauf,
nochmal zusammenkommt, der Wust an Gotteswundern...
Schon - schnappen - deine Lungen
wie zwei Flundern,
die Jadebucht reißt auf:

W a s s e r s t r ö m t v o r,
ein Sturmtief wirft
Meerflocken über das entflammte Laken.
K o m m , k u c k e n , K u n s t:
die japsenden Kloaken -
der Bagger seufzt und schlürft.