Tod im Atlantik

05.10.2010
30.000 "verschwundene" Oppositionelle, eine spät aufgehobene Amnestie und zahlreiche Strafprozesse: Ein deutscher Rechtsanwalt zeichnet in einer klaren Skizze die juristische Aufarbeitung der Verbrechen der argentinischen Junta nach.
Das "Verschwindenlassen" von Menschen ist eine grausame Erfindung der argentinischen Militärs, zumindest in dieser Größenordung. Zwischen 1976 und 1983, also während der letzten Militär-Diktatur am Rio de la Plata, wurden etwa 30.000 Oppositionelle heimlich verhaftet, gefoltert - und "verschwanden" spurlos. Die Angehörigen erfuhren in der Regel nichts über das Schicksal der Opfer. Heute weiß man, dass zahlreiche dieser "Desaparecidos" bei lebendigem Leib aus Hubschraubern über dem atlantischen Ozean in den Tod geworfen wurden.

Mitte der 80er-Jahre, gleich nach dem Ende der Diktatur, wurden einige Prozesse gegen Beteiligte an diesen Gewalttaten angestrengt. Präsident Raúl Alfonsin erließ 1986 auf Druck des immer noch mächtigen Militärapparats jedoch ein Gesetz, das die Verantwortlichen vor Strafverfolgung schützte. Diese Amnestie wurde erst fast zehn Jahre später von Präsident Nestor Kirchner aufgehoben, seither gab es zahlreiche Verfahren. Seit Ende 2009 wird in einem umfangreichen Strafprozess über die Vorgänge in der Marineschule ESMA verhandelt, dem berüchtigten Foltergefängnis, mitten in Buenos Aires, das manchmal als "argentinisches Auschwitz" bezeichnet wird. Auch gegen den ehemaligen Junta-Chef Jorge Rafael Videla erging Anklage, unter anderem wegen Kindesentführung. Die Generäle hatten Säuglinge ihren Eltern wegnehmen lassen und sie in die Obhut von Regime-Anhängern gegeben.

Wolfgang Kaleck, der Autor dieses Buches, ist Rechtsanwalt und beobachtet die Prozesse in Buenos Aires als Mitglied der Menschenrechtsorganisation "Koalition gegen Straflosigkeit". Auch deutsche Staatsbürger oder Argentinier mit deutschem Hintergrund waren von den staatlich befohlenen Gewalttaten betroffen. Daher tritt die Bundesrepublik Deutschland als Nebenklägerin auf.

Kaleck zeichnet die juristische Aufarbeitung der Junta-Verbrechen nach. Er zieht insgesamt eine positive Bilanz. Unter anderem hätten in Europa angestrengte Verfahren starken Druck auf Argentinien ausgeübt, die Amnestie für die Militärs aufzuheben. Kaleck geht auch auf das Verhältnis Deutschlands zur Diktatur in Argentinien ein: Die starken wirtschaftlichen und diplomatischen Verflechtungen der beiden Länder in den 70er- und 80er-Jahren hätten zu einer damals passiven, sogar eher feindlichen Haltung der deutschen Botschaft in Buenos Aires gegenüber den Opfern beigetragen.

Wolfgang Kaleck hat ein sehr kluges Buch, voller Material, voller Details, geschrieben, das sich nicht in juristischen Feinheiten verliert, sondern die Geschichte der Aufarbeitung der Diktatur in dem südamerikanischen Land klar skizziert. Der Leser erfährt viel über die Zusammensetzung und Zerrissenheit der heutigen argentinischen Gesellschaft als Folge der Gewalt unter der Diktatur. Die Bedeutung der internationalen Strafgerichtsbarkeit für die Gerichtsverfahren wird deutlich herausgearbeitet. Und natürlich wird man als Deutscher unwillkürlich immer wieder auf die Bewältigung der Vergangenheit des eigenen Landes zurückgeworfen.

Besprochen von Dirk Fuhrig

Wolfgang Kaleck: Kampf gegen Straflosigkeit. Argentiniens Militärs vor Gericht
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2010
127 Seiten, 10,90 Euro
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