Tod auf dem Schulschiff

Von Jörg Hafkemeyer · 14.09.2008
Sie ist 90 Meter lang, 12 Meter breit und hat einen Tiefgang von fünfeinhalb Metern. Bei gutem Wind kann sie 15 Knoten schnell sein mit einer Segelfläche von 2100 qm. In diesem Jahr hat sie Geburtstag. 50 Jahre wird die weiße Schönheit alt: die Gorch Fock, das Segelschulschiff der deutschen Marine.
Auf der Gorch Fock in den Gewässern vor den ostfriesischen Inseln. Einen Tag nachdem die junge Offiziersanwärterin über Bord gefallen ist. Der Kommandant Norbert Schatz sagt, wie es ihm geht.

"So wie der Besatzung. Eine tiefe Traurigkeit hat sich über das Schiff gelegt und die Erkenntnis, dass Seefahrt immer unberechenbar bleibt und dass man Gefahren nicht immer ausschließen kann."

Es ist ein paar Minuten nach Mitternacht. 20 Seemeilen westlich vor Norderney. Scheinwerfer suchen die Meeresoberfläche ab. Die großen Segel an Fock- und Hauptmast werden eingeholt. Die Gorch Fock verliert rasch an Fahrt. An der Steuerbordrehling junge Offiziersanwärter mit Nachtgläsern. Blasse, übermüdete Gesichter. Besorgte Offiziere und Unteroffiziere. Sie leiten vom Brücken- und vom Mitteldeck die Suche nach der 18-jährigen jungen Frau.

Die fällt 15 Minuten vor dem Ende ihrer Wache ins Meer. Besatzungsmitglieder hören ihre Hilferufe. Alarmieren das Schiff. Aus den Lautsprechern ertönt der Ruf: "Alarm. Mann über Bord. Mann über Bord. Das ist keine Übung. Das ist keine Übung." Alles stürzt an Deck.

Jeder kennt seinen Platz. Unaufgeregt, sehr ernst, sehr angespannt, sehr schnell leiten die Bootsleute unter der Leitung des besonnenen Decksmeisters Steffen Kreidel auf dem Vorschiff die Rettungsaktionen ein. Ständige Durchsagen, Rufe, Befehle. Eine Boje, dann eine beleuchtete Rettungsinsel fliegen über Bord.

Der Kommandant, Kapitän zur See Norbert Schatz ist auf der Brücke. Führt sein 50 Jahre altes Schiff. Leitet die Rettungsaktion. Stützt sich auf die Konsole vor den Radarschirmen. Ein mittelgroßer, schlanker Mann. Schmales Gesicht, kurze, dunkle Haare. Neben ihm der Segelmeister Oberstabsbootsmann Dirk Thomsen. In der Funkbude der Funkmeister Hauptbootsmann Maik Stabe. Routinierte, erfahrene Männer, die in diesen nächtlichen Stunden mit großem Nachdruck nach der vermissten jungen Frau suchen. Maik Stabe bittet per Funk aus seiner engen Bude um Hilfe bei der Bundespolizei, der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und bei der Marineführung in Glücksburg.

Zwei Seesoldaten und eine Frau springen in das schnelle Rettungsboot an der Steuerbordseite. Unverzüglich wird es herabgelassen. Klatscht auf die zweieinhalb Meter hohen Wellen der finsteren Nordsee. Schießt davon in Richtung Rettungsinsel. Verfolgt von starken Suchscheinwerfern. Die tasten die Wasseroberfläche ab. Nichts. Die 18-jährige Offiziersanwärterin im Sanitätsdienst ist verschwunden.

An Deck: Ihre Kameraden stehen, warten. Niemand schläft, Blasse, übermüdete Gesichter. Leere, traurige jugendliche Augen. Verweint.

Norbert Schatz kommt aus dem Brückenhaus heraus, tritt auf das Brückendeck zum Wachoffizier an der Steuerbordseite. Es ist sehr dunkel, sehr still. Das schnelle Rettungsboot operiert in großer Entfernung. Die Scheinwerfer tauchen die etwa 2,5 Meter hohen Wellen in ein gespenstisch gleißendes Licht. Der Kommandant dreht sich um, schaut nach vorne, dahin wo die junge Frau am Ende ihrer Wache steht und ins Wasser fällt. Bei aller Professionalität ... Norbert Schatz ist Vater einer 18-jährigen jungen Frau. Er hat Ringe unter den Augen. Traurig blickt er in diesem Moment.

Schatz: "Die Besatzung ist traurig. Alle an Bord sind traurig. Wir haben eine junge Kameradin verloren. Mehr als 15 Stunden haben wir nach ihr gesucht. Bisher vergeblich. Die Crew – Stammbesatzung und Offiziersanwärter – hat sich großartig geschlagen. Trotz des Schmerzes. Trotz mancher Tränen. Wir haben zusammen mit unseren Kameraden von den Fregatten Rheinland-Pfalz und Niedersachsen, der Schiffe der Küstenwache, der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger sowie den Besatzungen der Hubschrauber, der Flugzeuge von Marine und Luftwaffe alles versucht, ein großes Seegebiet ununterbrochen abgesucht. Ohne Ergebnis bisher. Die Suche geht weiter."

So geht es allen. Ein schwarzer Schatten hat sich über das weiße Schiff gelegt. Die Lust am Segeln und Lernen der letzten Tage ist verflogen ...

Tag zwei auf See. Nach dem Auslaufen aus dem Heimathafen Kiel. Der Wind ist schwach. Und er weht aus der falschen Richtung. Aus Norden. Dorthin will der weiße Albatros auf dem Weg durch die Meeresenge vor Kopenhagen ins Kattegat und das Skagerrak, dann in die Nordsee. Die Gorch Fock läuft unter Maschine. Das ist ein mächtiger Schiffsdiesel, der sich unter dem Mitteldeck befindet. Eine steile Treppe führt hinab, sozusagen in den Keller des Großseglers. Es riecht nach Diesel und Schiffsöl, Kondenswasser. Es ist das Reich von Guido Zado. Der Schiffstechnische Offizier ist Oberleutnant zur See, gelernter Dampftechniker, wohnt in Admannshagen in Mecklenburg-Vorpommern. Ein kräftiger Mann. Der geborene Techniker. Was um Himmels Willen macht Spaß daran, auf einem Rahsegler in der Maschine zu fahren?

Zado: "Das macht schon Spaß. Jeder hat so seine Neigungen, sag ich jetzt mal und wer schiffstechnisch eben veranlagt ist, mag eben dieses lieber als unbedingt immer die frische Luft und mit der frischen Luft auch manchmal das schlechte Wetter dort oben zu ertragen."

Die Maschine der Gorch Fock ist so etwas wie ein Nervenzentrum des 90 Meter langen Schiffes. Hier wird über die lange, große Welle die Kraft auf den Propeller gebracht. Hier versorgen drei Elektromotoren den Segler mit Strom. Rohre, Leitungen, Stahlträger und der Fahrstand. Guido Zado sitzt auf einer Bank hat seine schwarzen schalldämpfenden Kopfhörer abgenommen. Ausnahmsweise. Der gelernte Minensucher lächelt. Er mag die Gorch Fock.

Zado: "Bei mir war es schon mehr Absicht. Geplant war vom Personalwesen her eigentlich jemand anders, bloß der wollte gern ein anderes Schiff fahren, ich wollte gern hier fahren und dann haben wir getauscht. Das war möglich und deswegen bin ich hier."

Der Fahrstand im Maschinenraum. Eine digitale Anzeigentafel. Ein paar Schalter. Ein Telefon. Eine Ablage. Ein weißer Kühlschrank. Ein großer Tauchsieder. Im Hauptberuf fahren Guido Zado und sein zierlicher Obermaat Dennis Teichmann von hier das große Antriebsaggregat. Im Zweitberuf betreiben sie eine Würstchenbude, heißt es in der Crew. Und das stimmt. Die heißen Würstchen sind großartig und die frittierten Schnitzel sollen es auch sein. Dennis Teichmann hockt auf einer Bank unterhalb der Anzeigentafel. Blaue Arbeitshose. Ein T-Shirt. Grundfarbe weiß.

Teichmann: "Ich bin Wachführer einer der Seewachen. Und ich bin dafür zuständig, dass quasi während meiner Seewache, alles rechtens läuft."

Viel von dem Treiben an Deck bekommt der junge Mann nicht mit. Will er auch gar nicht. Er ist ein Technikfreak, wie es wahrscheinlich Männer auf allen Schiffen sein müssen, die in Lärm, Gestank und unterhalb der Wasseroberfläche arbeiten, sagt er.

Teichmann: "Ich habe auch was gelernt. Ich bin Energieelektroniker im Bereich Anlagentechnik. Zur Bundeswehr bin ich gekommen, na, weil da eigentlich jeder hin muss. Im Zuge dessen habe ich mich sogar freiwillig gemeldet, habe mich umgeschaut und bin so zur Marine und auf die Gorch Fock gekommen."

Guido Zado, der Schiffstechnische Offizier, SVO abgekürzt, steht auf, will seine Runde machen, die ihn auch auf das Oberdeck führt. Ich hänge richtig an dem Schiff, sagt er und nimmt dafür in Kauf, dass er viel und lange von zu Hause weg ist.

Zado: "Na, ja, was sagt so ne Frau? Ja, klar, sie steht eigentlich schon hinter mir und meinem Beruf. Natürlich, das ist ganz klar, zu Hause treten auch Probleme auf und, ja mit Kindern und jetzt auch noch ein Kleinkind bei uns ist das eben manchmal ein bisschen mehr und dann kann man natürlich verstehen, dass die Frau nicht unbedingt immer hinter jeder Seefahrt steht. Aber im Allgemeinen hält sie mir den Rücken frei."

Der kräftige Mann setzt seine schallschluckenden Kopfhörer auf, macht sich auf den Weg nach oben zum Brückdeck. Er grüßt den Segelmeister Dirk Thomssen. Der steht im Brückenhaus. Der hoch gewachsene grauhaarige Mann steckt mit einem Fähnrich den Kurs nach Norden ab:

Thomssen: "Wir befinden uns gerade nördlich von Rügen. Auf dem Weg an der Insel Moen vorbei. Dann durch den Sund."

Thomssen beugt sich über die Karte, schaut auf den rechten der beiden Radarschirme, erklärt dem jungen Offiziersanwärter aus Brandenburg:

Thomssen: "Durch die vorherrschende Windrichtung aus Nordwest ist es nun nicht möglich durch den Wind durch zu segeln. Sondern wir müssen die Segel wegpacken, das ganze mit Motor bewerkstelligen."

Begeisterung löst das auf der Brücke keine aus. Die meisten sind eingeschworene Segler. Thomssen auch. An der Marineschule in Flensburg bildet er jahrelang junge Offiziersanwärter im Segeln aus. Dann kommt er auf die Gorch Fock. Ein Traum, sagt er. Wendet sich wieder dem jungen Fähnrich zu:

Thomssen: "Wir werden Kopenhagen passieren. Dann noch durch die Enge Helsingborg/Helsingör laufen und anschließend in den Kattegat gehen und auf bessere Winde hoffen."

Es ist spät geworden. Dunkel auch. Kapitän zur See Schatz betritt das Brückenhaus. Die abendliche Lagebesprechung. Martin Großklaus, ein junger Meteorologe, Fregattenkapitän und von allen geschätzt, sagt voraus: Ein Tief wird heranziehen und am Ausgang des Skagerrak besseres Wetter bringen. Besseres Wetter, vor allem mehr Wind aus der richtigen Richtung. Besseres Wetter heißt auch endlich wieder segeln und höhere Wellen:

Großklaus: "Danach würde unsere Position für heute Abend südlich vor Stavanger liegen. Der Wind wird leicht auffrischen und aus westlicher bis südlicher Richtung wehen. Bis dahin werden wir unter Maschine laufen müssen. Im Laufe des Tages jedoch ist dann so langsam wieder daran zu denken, die Segel setzen zu lassen."

Norbert Schatz dankt seinem Meteorologen. Die beiden schätzen sich. Sind per Du. Der Kommandant wendet sich im engen, schwach beleuchteten Brückenhaus an seine Offiziere und die übrigen Funktionsträger:

Schatz: "Der Auftrag für die Nacht ergibt sich natürlich aus der Wetterlage. Die muss ja irgendwann mal besser werden und Wind bringen. Insofern laufen wir erst einmal weiter unter Maschine. An den Wachoffizier: Ich will aber geweckt werden, wenn der Wind auffrischt. Das kann während der kommenden Nacht oder in den Morgenstunden sein. Dann wollen wir mal hoffen, dass wir endlich bald wieder segeln können."

Die Männer und Frauen gehen auseinander, treten hinaus auf das Brückendeck. Die Wachen sind aufgezogen. Es ist Ruhe im Schiff. Es ist eine tiefschwarze Nacht. Vier Tage vor dem schrecklichen Unfall.

Es ist der frühe Morgen nach dem Tod der 18-jährigen Offiziersanwärterin. Dicht gestaffelt, keine 300 Meter voneinander entfernt, fahren die Suchschiffe durch die dunkle Nordsee vor der Küste der Insel Norderney. An Backbord zwei Kreuzer der Küstenwache. Die kräftigen Scheinwerfer hasten über die Wellen. Hubschrauber fliegen ununterbrochen das Suchgebiet ab. Übermüdet, erschüttert, weinend stehen, sitzen die Kadetten an Deck, ziehen auf Wache, trösten sich gegenseitig. Ohne Erfolg. Mit herabhängenden Schultern, steht eine Freundin der Ertrunkenen an der Rehling. Leere, feuchte Augen, das Haar aufgewühlt, lose zusammengesteckt, ringt sie die Hände.

Sie blickt nach unten aufs Wasser, auf das zurückkehrende Rettungsboot. Die drei Seenotretter zucken mit den Schultern. Alle ahnen, die junge Frau ist ertrunken. Aussprechen mag es niemand. Das Boot wird eingehakt, an einem kräftigen Stahlsein mit einer Kranwinde nach oben gezogen. An Deck gehievt, in seine Verankerung eingesetzt. Zwei junge Soldaten und eine Kameradin steigen aus, zwängen sich aus ihren wetterfesten Overalls: der Taucher aus seinem glänzenden schwarzen Anzug. Müde Augen, hilflose

Gesten, herabhängende Mundwinkel. Erschöpfung. Hilflosigkeit. Einer sagt: Wir machen alles richtig und haben doch keinen Erfolg.

Die Suche geht weiter. Hoffnungslosigkeit breitet sich aus. Einige Kameradinnen unter Deck wollen das alles nicht glauben, hocken beieinander und wünschen sich einfach nur, dass ihre Kameradin herein kommt und alles nur ein böser Traum ist. Ist es aber nicht.
Es ist ein Alptraum, der am sechsten Tag auf See ankündigungslos über sie hereinbricht.

Drei Tage vorher, im Skagerrak. ruhige See. Unterricht an Deck.

Auf der Steuerbordseite des Brückendecks steht in diesen Nachmittagsstunden ein junger Kapitänleutnant. Torsten Kuelpmann ist der Wachoffizier. Ein ruhiger, besonnener Mann. An Deck ist ein ziemliches Gerenne. Kuelpmann erklärt, was gemacht wird.

Kuelpmann: "Jetzt werden gerade die Vorstagsegel geborgen. Danach die beiden obersten Royals und die Bramsegel und danach kann es sein, dass der Kapitän die Besansegel auch noch weg nimmt."

Segelmanöver ist hier zu beobachten müssen sehr präzise ausgeführt, sehr schnell durchgeführt, vor allem zum richtigen Zeitpunkt gefahren werden. Torsten Kuelpmann beherrscht das und es macht ihm ganz offensichtlichen Spaß. Neben ihm steht Oberleutnant zur See Dennis Kessler, wie sein Kamerad Kuelpmann vernarrt ins Segeln. Was ist das, Faszination Segeln?

Kessler: "Zum einen die Erlebnisse in der Natur, die Witterung, ständig ändernde Wetterlagen, die man an Bord erlebt. Dafür muss man nicht bei der Bundeswehr sein, das kann man auch so, wenn man privat segelt, erfahren. Das Zusammenspiel, das man nur vereint in der Lage dazu ist, ein so großes Stück Stahl, und das ist es ja erstmal nur, zu bewegen. Es ist einfach faszinierend, dass, wenn alle zusammen arbeiten, zusammen am gleichen Strang ziehen, am richtigen Tampen reißen, dass es dann funktioniert. Und nur dann."

Der Kommandant Norbert Schatz tritt hinzu. Hört seinen beiden jungen Offizieren zu und meint:

Schatz: "Also für mich ist die Faszination auf diesem Schiff, dass man so einen Großsegler, immerhin 90 Meter lang, 2000 Tonnen, nur mit Hilfe der Naturgewalten fährt und dadurch ganz andere Maßstäbe an die Seefahrt setzt wie das mit einem Motorschiff ist. Und das Schöne daran ist, dass hier alles nur dadurch funktioniert, dass hier 200 Mann zusammenarbeiten und das macht einfach Freude. Wie für einen Dirigenten, der erst einmal ein riesiges Orchester zusammenbringen muss und wenn dann die richtigen Töne erklingen, dann freut er sich.
Und so ist das auch für mich: Wenn dieses Schiff das macht, was wir wollen und wir von A nach B kommen. Und das mit Hilfe des Windes."

Die Kadetten sind unter der Anleitung ihrer Ausbilder ständig auf den Beinen. Zerren mal ganz vorne an dicken Tampen oder auf dem Achterdeck. Verwirrend bleibt das, macht aber Sinn sagt Torsten Kuelpmann, der neben seinem Kapitän steht.

Kuelpmann: "Das ist der Beginn einer Wende. Wir holen dazu einige Segel ein. Andere brassen wir. Das muss alles sehr flüssig gehen. Die Manöver haben eine bestimmte Reihenfolge mit dem Ergebnis, wir kommen schneller einfach durch den Wind."

Nicht nur das. Oberleutnant Kessler.

Kessler: "Momentan ist es eine gute Mischung und eigentlich ein ideales Segelwetter. Wir haben Sonne und wir haben wunderbaren Wind, der uns mit einer ordentlichen Geschwindigkeit von mittlerweile knapp zwölf Knoten voran treibt."

Sprechfunk unterbricht Kessler: Beginnt mit "Achtung Navigation…"

Der Wind hat zugenommen. Der Wellengang auch. Die Sonne strahlt herab. Silbern glänzt die Wasseroberfläche. Das Segelmanöver ist beendet. Die Wende gefahren. Der neue Kurs liegt an. Die Kadetten versammeln sich auf dem Mitteldeck zum Unterricht. So etwas wie eine Open Air Veranstaltung.

Der junge Bootsmann Tobias Neugebauer hat seine Auszubildenden um sich versammelt. Knoten sollen gelernt werden, das ist nicht so einfach, wie sich Kapitänleutnant Kuelpmann an seinen ersten Knoten erinnert, der dem Treiben auf dem Mitteldeck von seinem erhöhten Brückedeck aus zu schaut:

Kuelpmann: "Das war ein ganz normaler Achterknoten, den ich als erstes lernen musste, weil er auch der einfachste ist."

Bootsmann Neugebauer steht an Deck, breitbeinig, hat einen Tampen in der Hand und erklärt seinen Zuhörern einen Knoten mit einem für Binnenländer fremd klingenden Namen.

Neugebauer: "Jetzt machen wir gerade einen Paalsteg. Den braucht man, um ein festes Auge zu erstellen. Meinetwegen Barkassen, Pinassen anlegen. Irgendwas anzuschlagen, eine Pütz, einen Fender, was auch immer."

Die Kadetten schauen etwas betroffen drein. Neugebauer schmunzelt und versucht zu helfen …

Neugebauer: "Da gibt’s ja so einen bekannten Spruch. Man macht einen Teich, die Schlange kommt aus dem Teich raus, krabbelt um den Baum, geht wieder in den Teich rein. Dann hat man einen Paalsteg."

Der Bootsmann mag die jungen Frauen und Männer. Ihnen wird bei zunehmendem Seegang reichlich mulmig. Sie versuchen sich zu konzentrieren. Leicht fällt das nicht allen. Der junge Oberfähnrich Moumoudi aus Benin lehnt sich gegen die Rehling:

Moumoudi: "Mir war seit gestern übel. Ich habe mich ab und zu übergeben, weil ich konnte nicht mehr ertragen und dann ist es so gekommen. Ich konnte die Wellen nicht mehr ertragen seit gestern Abend, wissen sie. Jetzt geht es mir besser weil die Wellen sind nicht mehr hoch. Und das Schiff geht langsamer. So ist es mir bequemer."

Der Bootsmann schaut ihn an nickt. Versteht ihn. So lange ist das noch nicht her, dass er selbst auf die Gorch Fock gekommen ist:

Neugebauer: "Ich bin seit April 2007 hier. Ich bin Korporal, das heißt, ich führe eine Korporalschaft und fahre eine Segelwache. Ich bilde die OAs aus. Wenn man sie Kids nennen möchte, ja, dann sind es auch Kids."

Während der Mann das sagt, schmunzelt er ein wenig, seine gutmütigen Augen schauen auf die Kadetten. Er erklärt ihnen noch einmal den Paalsteg.

Neugebauer: "Wir wollen ein festes Auge haben. Die Länge bestimmen wir, in dem wir den einen Part so lang auslegen, wir das Auge haben wollen. Legen ein Auge quasi auf die andere Part. Und das Auge, das gebildet wird, liegt oben. Dann nehmen wir den anderen Tampen, das andere Ende, gehen aus dem Teich rum, also unser gelegtes Auge, gehen einmal um den Baum herum und gehen in den Teich wieder hinein, ziehen die Schlange quasi fest mit dem Baum zusammen, dann haben wir einen Paalsteg."

Die Kadetten sind verwirrt und haben so richtig nichts verstanden. Vom Brückendeck aus schaut der Wachoffizier Torsten Kuelpmann dem Unterricht noch immer zu. Erinnert sich, wie schwer im die ersten Knoten gefallen sind.

Kuelpmann: "Zunächst schon. Weil man natürlich nie etwas damit zu tun hat und ich glaube, bis ich den ersten Paalsteg verstanden hatte, machen konnte hat das auch ein paar Tage gedauert. Es ist schon relativ schwierig, weil die Jungs auch zehn Stück einfach direkt können müssen, lernen müssen und es auch abgefragt wird. Es ist nicht einfach."

Währenddessen geht der Unterricht an Deck zu Ende. Die jungen Offiziersanwärter in ihren blauen Arbeitsanzügen haben einen langen Tag hinter sich. Sind erschöpft, müde und ein bisschen seekrank. Trotten von dannen. Unter Deck. Ein langer Tag geht zu Ende.

Der Wind nimmt weiter zu. Der Bug der Gorch Fock hebt und senkt sich beträchtlich. Die Sonne verschwindet hinter dem Horizont. Aus der Funkbude werden die Erkennungssignale nach Glücksburg zum Flottenkommando geschickt. Vier Tage vor dem Tod der jungen Kadettin.

Trotz der Fassungslosigkeit, jeder will etwas tun, helfen, wo nicht zu helfen ist. Die Rettungshubschrauber fliegen weiter. Ohne Unterlass.
Bis in die Morgenstunden. In denen knackt es plötzlich in der Bordsprechanlage.

Schatz: "An alle Stellen. Der Kommandant."

An und unter Deck wird es schlagartig still. Alle scheinen zu ahnen, was kommt ...

Schatz: "Wie sie alle merken sind wir nach wie vor hier im Suchgebiet. Und arbeiten in Suchschlägen das immer größer werdende Gebiet ab. Doch wir alle wissen natürlich, dass die Chance kleiner und kleiner werden. Man muss davon ausgehen, dass mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit die Sache nicht mehr gut ausgehen kann."

Es wird zur Gewissheit. Die 18-Jährige ist ertrunken. Wenige Tage vor ihrem 19. Geburtstag. Fast 15 Stunden dauert die Suche. Tag acht auf See. Vor der ostfriesischen Küste.

Der Segelmeister Dirk Thomasen steht neben seinem Kommandanten Norbert Schatz, der von hier aus die Durchsage macht. Von hier aus sein Schiff, den weißen Albatros, führt.

Die Suchaktion wird seit Stunden von der Fregatte Rheinland-Pfalz koordiniert, die an Steuerbord läuft.

Die Männer sind müde und einfach traurig. Norbert Schatz ist es auch. Wie soll es weitergehen?

Schatz: "Nun, wir sind jetzt auf dem Weg nach Wilhelmshaven. In den Marinestützpunkt. Dort beginnen unverzüglich die ersten Untersuchungen dieses wirklich tragischen Unglücks. Weshalb ich ihnen im Moment auch noch nicht sagen kann, für wie lange oder für welchen Zeitraum die Gorch Fock in Wilhelmshaven bleiben wird. Wir haben aber die Absicht, diese 151. Ausbildungsreise möglichst bald fort zu setzen."

Die Fahrt nach Wilhelmshaven. Abends. Das feierliche Einlaufen im Hamburger Hafen ist abgesagt. Unter Deck sitzt die junge Freundin der Ertrunkenen. Sie schluckt, weint. Hat keine Tränen mehr. Angst allein zu sein. Es ist zum ersten Mal in meinem Leben jemand gestorben, den ich gut kannte, sagt sie mit erschöpfter Stimme. Sie hat doch noch um Hilfe gerufen. Dann war sie weg. Jetzt ist ihre Hängematte neben ihr leer.
Der Albatros, die Galionsfigur der "Gorch Fock"
Der Albatros, die Galionsfigur der Gorch Fock© AP Archiv
Ein einzelner Seemann erscheint im Gewirr der Takelage des Segelschulschiffs der Deutschen Marine "Gorch Fock", die derzeit in ihrem Heimathafen in Kiel auf ihre große Reise, die am kommenden Montag startet, vorbereitet wird.
Segel der Gorch Fock© AP