Tintenfische und Poltergeister

Rezensiert von Maria Riederer · 06.09.2006
Astrid Lindgren ist der bekannteste Name unter den Autoren der Zeit Kinder-Edition, doch auch die anderen Bücher sind lesenswerte Geschichten, mal spannend, mal absurd. Mit Wortwitz überzeugen sie auch die Eltern, die die Bücher vorlesen. Die Original-Illustrationen lassen Erinnerungen an die eigene Kindheit aufkommen.
"James grub in dem Schuttberg, den die Arbeiter hinter dem Haus aufgetürmt hatten. Das meiste war Bauschutt, aber dazwischen steckte auch anderes – Teile alter Stühle, Zeitungsbündel, Schachteln voller Krimskrams. Man konnte nie wissen – vielleicht fand er hier etwas Brauchbares. James zog einen Stapel Zeitungen hervor und las die Schlagzeilen: ‚Brot bleibt rationiert, Russland sagt wieder Nein!’ die Jahre lagen sehr lange zurück.

Er fand eine Schachtel mit alten Kleidern und eine mit Briefen und Ansichtskarten von Blumenvasen und einfältig lächelnden Mädchen in hoch geschlossenen Badeanzügen.

Gerade wollte James die Schachtel mit den Briefen zur Seite stellen, da sah er, dass ganz unten noch etwas anderes lag. Ein kleines, in Leder gebundenes Buch."

James gräbt nicht zum Vergnügen in dem Haufen alter staubiger Gegenstände. Er sucht nach der Lösung zu einem großen Problem. Dieses Problem heißt Thomas Kempe und ist ein Poltergeist. Zahllose Versuche, Thomas Kempe zur Ruhe zu bringen, sind schon gescheitert. Die Lösung findet James in einem alten, ja uralten Buch.

"Ein kleines, in Leder gebundenes Buch. Zuerst hielt er es für eine Bibel, aber dann stellte er fest, dass es ein Tagebuch war. Er fühlte sich unbehaglich, denn ein Tagebuch zu lesen, selbst wenn der Schreiber schon lange tot war, kam ihm naseweiß vor. Er wollte es zuklappen, da lösten sich zwei Wörter aus dem verschnörkelten Text und trafen ihn direkt zwischen die Augen: Thomas Kempe."

Penelope Livelys Geschichte vom "Geist des Apothekers" ist eines von 15 Büchern der Zeit-Kinderedition. Die Edition ist eine Schatzkiste. Wer sie öffnet, dem springt zuerst ein bekannter Name ins Auge: Astrid Lindgren. Darauf folgt Edith Nesbit mit einem Titel von 1913. Dann kommen Namen, die größtenteils unbekannt oder in Vergessenheit geraten sind. Und das, obwohl sie zu ihrer Zeit hohe Auszeichnungen für ihre Bücher und Ideen erhalten haben. So zum Beispiel Richard und Florence Atwater, Oliver Postgate und Peter Firmin, Agnes Sapper, T.H. White, Adolf Himmel und viele andere.

"’Ich will einen Radelrutsch’, sagte Murks, das Schwein.
‚Wo soll ich einen Radelrutsch hernehmen?’, fragte die Schweinemutter.
‚Dann mache ich mir selber einen’, sagte Murks, das Schwein.
Es nahm zwei Rübenscheiben und zwei Bohnenstangen und machte sich einen Radelrutsch daraus.
‚Wo willst du jetzt hinfahren’, fragte die Schweinemutter.
‚Nach Schweinfurt’, sagte Murks das Schwein."

Absurde und lehrreiche, spannende und zu Herzen gehende Geschichten hat die Kinderedition der "Zeit" gesammelt. Der Sprachwitz wird nicht nur Kinder ansprechen, sondern auch Eltern und Erwachsene. Das ist wichtig, denn sie sollen die Bücher ja kaufen und im Idealfall vorlesen.

Zum Beispiel die Geschichte von "Frederico Oktopod und Tünne Tintenfisch" von Adolf Himmel aus dem Jahr 1967. Darin begegnet der Junge Antonio beim Schnorcheln einem Tintenfisch namens Frederico Oktopod.

"’Oktopod heißt du?’, fragte Antonio. ‚Den Namen habe ich aber noch nie gehört.’
‚Es ist ein alter Name, weil wir eine alte Familie sind. Er kommt aus dem Griechischen und bedeutet Achtfuß. Ich bin ein Achtfuß aus der Familie Tintenfisch.’
‚Ich dachte, das sind Arme’, sagte Antonio.
‚Wenn du möchtest, können wir auch Arme dazu sagen’, antwortete Frederico."

Adolf Himmel erzählt eine abenteuerliche Geschichte, bringt den Kindern dabei unauffällig etwas über Meerestiere bei und traut sich sogar, ein bisschen pädagogisch zu sein. Aber selbst das führt nur zur Belustigung, gerade weil es so altmodisch anmutet.

"’Wir waren schon hier, als die Römer hier waren.’, sagte Frederico. ‚"Die haben hier vor zweitausend Jahren ihre kaputten Teller ins Meer geschmissen.’
‚Kaputt und geschmissen soll man aber lieber nicht sagen’, sagte Antonio. Frederico schlug sich erschrocken mit allen acht Händen auf den Mund: ‚Ich tu's nie wieder!’"

Die Bücher der Zeit-Kinderedition sind nicht nur inhaltlich, sondern auch in der Verarbeitung und Aufmachung hochwertig. Um sie als eine Reihe erkennbar zu machen, wurden alle Buchdeckel von der Kinderbuchillustratorin Sybille Hein gestaltet und mit farbigen, leinenen Rücken versehen. Die Bilder zu den Geschichten stammen dagegen aus den Originalen.

Manch vorlesender Erwachsener wird entzückt sein, wieder die Bilder seiner eigenen Kindheit zu entdecken. So beispielsweise die von Franz Josef Tripp oder Robert Lawson oder Ilon Wiklands unnachahmliche Illustrationen zu den Geschichten von Astrid Lindgren.

"Nie zuvor hatte Malin gewusst, dass auch Worte schön sein konnten, und nun erfuhr sie es, und sie sanken ihr in die Seele wie Morgentau auf eine Sommerwiese. Ach, sie wollte sie in ihrem Herzen bewahren für alle Zeit und nie wieder vergessen, aber schon als sie mit Pompadulla heimkehrte ins Spittel, waren sie ihr aus dem Gedächtnis entschwunden. Nur ein paar wunderliebliche Worte wusste sie noch, und sie sagte sie leise vor sich hin, wieder und immer wieder: Klingt meine Linde, singt meine Nachtigall? So lauteten die Worte und in ihrem Glanz schwand alles Elend und aller Jammer des Armenhauses dahin. Warum es so war, wusste sie nicht, doch ein Segen war es, dass es so war."

DIE ZEIT Kinder-Edition, Die schönsten Bücher zum Vorlesen
Zeit-Verlag, Gerd Bucerius 2006