Tino Sehgal im Palais de Tokyo

Der Betrachter als physischer Körper

Blick auf das Palais de Tokyo am Seine-Ufer
Blick auf das Palais de Tokyo am Seine-Ufer © dpa
Von Kathrin Hondl · 11.10.2016
Tino Sehgal ist einer der gefragtesten bildenden Künstler. Dabei produziert er gar nichts, jedenfalls nicht im üblichen Sinn. Er schafft "konstruierte Situationen". Das Palais de Tokyo in Paris hat ihm eine riesige Ausstellungsfläche zur Verfügung gestellt.
"Qu’est-ce que l’énigme?" - "Was ist das Rätsel?" Fragt mich ein Mann in Jeans und blauem T-Shirt. Und weil er dabei schlängelnde Bewegungen macht, die seinen Körper momentweise in ein Fragezeichen zu verwandeln scheinen, antworte ich spontan: ein Fragezeichen. "Dein Rätsel ist ein Fragezeichen", verkündet er daraufhin feierlich und weist mir die Richtung: Geradeaus weiter in die weitläufigen Hallen im Erdgeschoss des Palais de Tokyo.
Interpreten nennt Tino Sehgal die Männer, Frauen und Kinder, die mit den Ausstellungsbesuchern in Kontakt treten und dabei mehr oder minder frei agieren dürfen.
"Die entscheiden halt, wo sie Sie hinschicken. Je nachdem wie Ihre Antwort ist. Aber zum Beispiel bei 'This progress': Die haben natürlich unheimliche Freiheiten. Ich hab’ keine Ahnung - Sie wissen mehr als ich. Deshalb würde ich Ihren Beitrag auch gern hören, dann wüsste ich, was da passiert."

Was ist Fortschritt?

"This progress" beginnt mit Max, einem vielleicht neunjährigen Jungen, der mich fragt: Was ist Fortschritt? Ich versuche möglichst kindgerecht ein paar Gedanken zu formulieren. Fortschritt sei eine Idee, die Vorstellung, dass sich das Leben der Menschen im Laufe der Zeit stetig verbessern würde. Und in der Medizin zum Beispiel sei es offensichtlich, dass die Menschen dank des Fortschritts heute länger lebten als vor 200 Jahren. In anderen Bereichen allerdings sei der Fortschrittsgedanke fragwürdiger ... Und so schreiten wir über den Fortschritt redend voran - bis Louis die Konversation übernimmt. Er ist schon ein bisschen älter, 15 vielleicht, und - während wir stetig weitergehen durch die leeren Ausstellungshallen - will er es ein bisschen genauer wissen. Wo die Menschheit denn keine Fortschritte mache? ist unsere Leitfrage, bis sich Anne einschaltet, eine erwachsene Frau, die wiederum von einer noch älteren Dame abgelöst wird. Selbstverständlich ist es kein Zufall, dass Künstler Tino Sehgal die Fortschrittsdebatte mit einem Kind beginnen lässt.
"Die Tatsache, dass das Kind diese Frage stellt, heißt ja schon, es steht noch einmal zur Debatte, es ist nicht mehr selbstverständlich, vor allem in der Zukunft ist es nicht selbstverständlich. Für das Kind kann es nicht mehr selbstverständlich sein. Weil ich denke, ja, die Idee, das gute Leben aus dem Sich Umgeben mit Dingen zu definieren, ist jetzt nicht wirklich so eine tragfähige Idee, und auch im ökologischen Sinn ist es nicht nachhaltig, so viele Dinge zu produzieren, und daher kommt die Frage."

Keine Aufnahmen gestattet

Und natürlich hat auch Tino Sehgals radikale künstlerische Entscheidung, keine Objekte zu produzieren, mit diesen grundsätzlichen Fragen zu tun. Er will der mit Dingen überfüllten Welt keine weiteren Dinge hinzufügen. Sehgal kreiert Situationen, in die die Austellungsbesucher eintauchen, und die dann unwiderruflich vorbei sind. Im Palais de Tokyo gilt wie immer bei Tino Sehgal: Man darf seine Arbeiten weder filmen noch fotografieren, auch Tonaufnahmen fürs Radio sind verboten.
"Die Frage ist, wenn Sie jetzt so ein paar Tonschnipsel hätten, gibt das den wirklichen Eindruck? Wenn Sie aber von Ihrer Erfahrung erzählen, wie Sie das vielleicht Ihren Kindern erzählen würden oder Ihrem Mann, dann gibt es vielleicht ein besseres Bild. Und für mich ist auch entscheidend, dass es nicht so einen objektivierenden oder objektiven Blickwinkel gibt. Das heißt, das 'This progress', das Sie durchlaufen haben, Ihre Antwort an das Kind, das ist eben eine Arbeit, die auf Sie zugeschnitten ist, in diesem Moment, und das kann man eben nicht wieder herstellen."
Mit dieser immateriellen Erlebnisästhetik war Tino Seghal in den vergangenen Jahren schon an allen möglichen bedeutenden Kunstorten der Welt außerordentlich erfolgreich - ob bei der Documenta oder der Venedig-Biennale, in der Londoner Tate, im New Yorker Guggenheim oder im Berliner Martin Gropius Bau. Fast alle "Situationen", die jetzt in Paris zu erleben sind, hat er auch schon anderswo inszeniert. Doch der verwinkelte Palais de Tokyo mit seinen 13.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche in rohbau-ähnlichen, oft düsteren Räumen über mehreren Etagen scheint wie geschaffen für Sehgals Kunst: Das Labyrinth des Palais de Tokyo, wo man sich leicht verlaufen kann, ist nämlich ein Ort, der Kunstbetrachter auch körperlich fordert. Ein idealer Ort für den Tänzer Toni Sehgal, der in die Ausstellung eine Arbeit von James Coleman integriert hat: "Box" - eine Film- und Soundinstallation aus dem Jahr 1977, wo zu aufflackernden Bildern eines Boxkampfes laut und rhythmisch das Atmen und Wortfetzen der Kämpfer zu hören sind.
"Man ist wie in dem Boxkampf drin, man ist nicht so ein distanzierter kritischer rationaler Betrachter, sondern man ist wie so eingeschlossen in seine eigene Körperlichkeit - also das Museum und die Kunstbetrachtung ist ja so eine Art von Distanznahme, rationaler Distanznahme und James Colemans Box ist eine Arbeit, die wirklich in diesem Format funktioniert der Ausstellung aber wirklich das Gegenteil macht."
Besser könnte man auch die Wirkung von Tino Sehgals Situationen im Palais de Tokyo nicht beschreiben - wobei das Rätsel natürlich bleibt: ein Fragezeichen nämlich, warum uns der Verzicht auf Distanz und Rationalität so gut gefällt.
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