Timothy Garton Ash: Hypermacht USA steht in Frage

Timothy Garton Ash im Gespräch mit Britta Bürger · 02.11.2010
Angesichts der drohenden Niederlage der Demokraten bei den Kongresswahlen in den USA sieht sich der britische Historiker Timothy Garton Ash in seiner Obama-Skepsis bestätigt. Wenn Obama die Kongress-Mehrheit verliere, werde dieser es sehr schwer haben, irgendetwas von seiner Politik durchzusetzen, sagte der teilweise in den USA lebende Ash.
Britta Bürger: Erleben wir gerade den Abstieg der USA als Weltmacht, oder könnte Barack Obama am Ende doch siegen mit seinem "Yes we can", dem Appell an die Macht der Vernunft. Am Tag der Kongresswahlen in den USA wollen wir uns im Gespräch mit dem britischen Historiker Timothy Garton Ash ansehen, wo die USA am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts stehen. Drei Monate des Jahres hält sich der Oxford-Professor jeweils in den Vereinigten Staaten auf und beobachtet, wie sich das Land unter Präsident Obama verändert. Herr Ash, herzlich willkommen im Deutschlandradio Kultur!

Timothy Garton Ash: Freut mich, hier zu sein!

Bürger: In Ihrem gerade erschienenen Essayband "Jahrhundertwende" mit weltpolitischen Betrachtungen der ersten Dekade des neuen Jahrhunderts, da findet sich auch ein Text, in dem Sie 2008 nach dem Wahlsieg Obamas – Sie waren damals auch vor Ort in den USA – ziemlich skeptisch waren, ob er in seinem Amt tatsächlich erfolgreich sein kann. Sind Sie in Ihrer Skepsis bestätigt worden?

Ash: Leider ja. Aber dazu muss ich erst sagen, es war ein unvergesslicher Abend am 4. November 2008: Vor dem Weißen Haus tanzten die Menschen, es war eine so tolle Stimmung da, alle riefen: "Yes we can, yes we can!" Es war sogar, würde ich sagen, ein Hauch samtener Revolution. Nach acht Jahren George W. Bush, nicht wahr. Aber am nächsten Tag schrieb ich ja, am nächsten Tag, diesen Text, in dem ich sagte, wir müssen hoffen, yes we can, aber ich wage es zu bezweifeln, denn die Probleme des Landes, wirtschaftspolitisch, also die Staats- und Privatverschuldung, außenpolitisch und auch im politischen System sind so groß. Und nach knapp zwei Jahren, nicht wahr, scheint das tatsächlich leider der Fall zu sein.

Bürger: Sie haben Obama damals als den großen Unbekannten beschrieben, seine Anhänger, die ihn als eine Art Messias erwarteten, er selbst gab sich cool, musste aber schnell sehr praktische Politik machen, wie sieht das denn jetzt nun zwei Jahre später aus, was halten diejenigen von ihm?

Ash: Also erstens, er ist immer noch sehr cool, das muss ich Ihnen sagen, und es ist immer noch ein solches Vergnügen, diese schwarze Familie im Weißen Haus zu sehen und was das bedeutet in der amerikanischen Geschichte. Es bedeutet ungeheuer viel, der Mann ist immer ruhig, nuanciert, realistisch, das ist ein Vergnügen. Aber, er kämpft mit einem Land, das in seiner öffentlichen Meinung gar nicht so nuanciert ist, das die Nuancen und die Kompliziertheit der heutigen Welt nicht sehen will, und mit einem politischen System, gerade im Kongress. Und ich vermute, nach allen Prognosen, jetzt wird er die Mehrheit verlieren im Unterhaus, im House of Representatives, möglicherweise behält er den Senat, dann wird es sehr schwierig sein, irgendetwas von seiner Politik durchzusetzen.

Bürger: Amerika hat einen hohen Berg zu erklimmen, so hat Obama in seiner Dankesrede damals nüchtern die Situation zusammengefasst, mit Blick eben auf den enormen Schuldenberg, den ihm ja die Bush-Regierung hinterlassen hatte, die Wirtschaftskrise mit all ihren Auswirkungen. Hat Obama denn Mittel gefunden, diese Krise zu bewältigen, sie irgendwie in den Griff zu bekommen?

Ash: Also, er hat so manches doch geleistet. Also die Reform des Gesundheitssystems ist eine große Leistung gegen die verbitterte Opposition der Republikaner, auch die Regulierung des Finanzsystems, bis zu einem bestimmten Grade hat er geschafft. Aber die haben natürlich im Gegensatz zu Deutschland sehr keynesianisch gehandelt. Das heißt, die haben erst mal sehr viel Schwarzgeld ausgegeben, der Schuldenberg ist ja viel größer geworden, und jetzt ist die Frage, ob es tatsächlich gelungen ist. Und das werden wir sehen. Das ist sicherlich eine große Wette.

Bürger: Welche Mittel und Möglichkeiten hat ein US-Präsident überhaupt, wird seine Macht möglicherweise überschätzt?

Ash: Dieses System, also die Verfassung der Vereinigten Staaten, ist dazu entworfen worden, um einen Georg III., das heißt einen tyrannischen König zu vermeiden, das heißt diese bekannte Checks and Balances (Anm. d. Redaktion: Schwer verständlich im Hörprotokoll). Das macht die Sache für den amerikanischen Präsidenten viel schwieriger als beispielsweise für den britischen Premierminister David Cameron oder für eine Bundeskanzlerin. Und dieses politische System wird immer schwer wirkender, immer dysfunktionaler meines Erachtens. Dazu muss man auch sagen, die Vereinigten Staaten – das ist auch ein Thema des Buches "Jahrhundertwende" – hat hinter sich ein verspieltes Jahrzehnt. Das Land war vor zehn Jahren das mächtigste, das reichste, die Hypermacht, nicht wahr, und jetzt steht es sehr infrage.

Bürger: Der britische Historiker Timothy Garten Ash ist zu Gast im Deutschlandradio Kultur. Aus Anlass der heutigen Kongresswahlen in den USA sprechen wir darüber, wie stark oder geschwächt Präsident Obama zwei Jahre nach seiner Wahl dasteht und mit welchem Politikverständnis er die amerikanische Gesellschaft zu prägen versucht. In Ihrem Buch, Herr Ash, "Jahrhundertwende", da nennen Sie Obama den ersten postethnischen Präsidenten, und damit deuten Sie ja auch eine kulturelle Dimension des Wandels an. Was hat es denn in den USA ausgelöst, dass das Land nun von einem farbigen Präsidenten regiert wird? Hat sich damit etwas verändert?

Ash: In der Tat, denn wir haben ja alle in Europa, Sie auch in Deutschland – ich brauche nur den Namen Thilo Sarrazin zu nennen – die Integrationsdebatte. Bei der Integration von Einwanderern, von Menschen mit Migrationshintergrund, war Amerika immer besser und weit voran. Es blieb nur noch das große Problem der Hinterlassenschaft der Sklaverei. Und mit der Präsidentschaft Obamas hat man symbolisch dies letztendlich auch überwunden. Also das hält noch und hat eine große symbolische Bedeutung.

Bürger: Symbolik ja, aber realpolitisch?

Ash: Na ja, symbolisch schon, wenn wir ... bitte, ein britischer Premierminister oder ein deutscher Bundeskanzler oder Bundeskanzlerin von einem solchen Hintergrund, nicht wahr, eine unterdrückte Minderheit, das hätte schon etwas zu bedeuten. Symbole darf man überhaupt nicht unterschätzen.

Bürger: Es ist ja bereits Ihr drittes Buch, in dem Sie jeweils eine Dekade unter die Lupe nehmen, Timothy Garten Ash, diesmal also die Jahre 2000 bis 2010. Und wenn wir jetzt mal das Objektiv öffnen und über die USA hinaus auf den globalen Wandel schauen, auf die Verschiebungen der Machtzentren in der Welt, was zeichnet sich durch die Entwicklungen in dieser ersten Dekade jetzt ab, vor welchen weiteren Umbrüchen stehen wir?

Ash: Also wir stehen selbstverständlich immer noch vor der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus, das haben wir gerade in den letzten Tagen mit diesen Bomben wieder vor Augen geführt. Aber ich glaube, die viel größere Herausforderung heißt der Aufstieg von nicht westlichen Mächten wie China und Indien. In dieser Hinsicht ist es tatsächlich Jahrhundertwende, denn keiner spricht mehr wie vor zehn Jahren von einer unipolaren Welt, nicht wahr, von der Hypermacht Amerika, das ist ja vorbei. Amerika ist immer noch die stärkste, die einzige Supermacht, aber sie ist ein Riese unter vielen. Und für uns Europäer – das ist wirklich ein Leitmotiv des Buches – ist das jetzt die Aufgabe, die Frage. Werden wir in zehn Jahren, weiteren zehn Jahren unter diesen Riesen sein oder werden wir immer noch unseren absurden Narzissmus der kleinen Unterschiede kultivieren?

Bürger: Was ist Ihre Antwort darauf?

Ash: Mein Motto ist immer, Pessimismus des Intellekts, Optimismus des Willens. Ich bin im Herzen Optimismus, aber im Gehirn etwas skeptisch. Ich sehe nicht viel Anzeichen dafür, leider muss ich auch sagen, auch in Deutschland, dass man diesen Narzissmus der kleinen Unterschiede, als jeweils nationaler Gesichtspunkt, genügend überwindet.

Bürger: Ihr Buch endet überhaupt mit einem ziemlich pessimistischen Blick auf unsere Zukunft. Sie beschreiben darin nämlich eindringlich am Beispiel des Hurrikan Katrina, wie nach einem kleinen Erdstoß das große Hauen und Stechen ums Überleben losging, und Sie nennen das das Vorspiel zu einer großen Entzivilisierung, die uns bevorstehe. Das ist ja ein gruseliges Szenario. Obama steht nun für ein ganz pragmatisches Politikverständnis, er versucht die großen Krisen mit Vernunft zu bewältigen – glauben Sie nicht oder nicht mehr an den Sieg der Vernunft?

Ash: Doch, aber wir müssen uns immer vor Augen halten, dass der Zustand, den wir in Europa – oder nehmen wir eine Stadt wie Berlin, wo wir hier sitzen, nicht wahr: Ich bin vor 35 Jahren das erste Mal nach Berlin gekommen, das war ein ganz anderes Berlin, eine geteilte Stadt in einem geteilten Land, mit viel Bösem ganz hautnah. Den Zustand, den wir in Europa erreicht haben, von einer zivilisierten, bürgerlichen Normalität, ist eben ein Ausnahmezustand, und es bedarf immer großer Anstrengungen, dass wir das erst mal beibehalten. Und wenn wir uns in weiteren zehn Jahren im gleichen Zustand finden würden, dann wäre schon viel erreicht.

Bürger: Der britische Historiker Timothy Garten Ash war zu Gast im "Radiofeuilleton". "Jahrhundertwende" heißt sein bei Hanser erschienener Essayband, "Weltpolitische Betrachtungen 2000 bis 2010". Herr Ash, haben Sie vielen Dank für den Besuch im Studio!

Ash: War mir eine Freude!