Timothy Garton Ash: Holocaust-Leugnung sollte straffrei sein

Timothy Garton Ash im Frank Meyer · 14.06.2013
Der britische Historiker Timothy Garton Ash forscht über die Grenzen der Meinungsfreiheit und spricht sich für möglichst wenig Tabus aus. Für ihn endet die Meinungsfreiheit dort, wo Worte unmittelbar in Gewalt münden. Hier müsse der Gesetzgeber einschreiten.
Frank Meyer: Der britische Historiker und Schriftsteller Timothy Garton Ash ist berühmt geworden mit seinem Buch "Ein Jahrhundert wird abgewählt – über den Abschied von Sozialismus in Mittel- und Osteuropa". Dieses Buch war eine Erzählung von mündig gewordenen Bürgern, von Menschen, die sich nicht länger bevormunden lassen wollten, ein Buch über angewandte Aufklärung. Über dieses Thema, angewandte Aufklärung, wird Timothy Garton Ash morgen einen Festvortrag halten beim Leibnitztag der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften.

Ich habe vor der Sendung in seinem Hotel mit ihm gesprochen, und Timothy Garton Ash zuerst gefragt: Was sind denn für Sie die wichtigsten Fragen bei diesem Thema heute, angewandte Aufklärung?

Timothy Garton Ash: Absolut zentral ist die Rede- und Meinungsfreiheit, woran ich jetzt sehr intensiv arbeite, es ist für mich ein Schlüsselthema, überhaupt für die Zukunft, nicht nur Europas, dann natürlich das Verhältnis zur Religion, das liegt auf der Hand – Schule, Bildung überhaupt, insbesondere die Schule, und was wir Menschen mit Migrationshintergrund beibringen an Sprache, an Kultur, an Staatsbürgerkunde, das ist doch recht entscheidend, und nicht zuletzt den Dialog mit der nichtwestlichen oder nicht ganz oder nicht klassisch westlichen Welt. Das scheint mir nicht nur entscheidend zu sein, sondern auch ungeheuer interessant.

Meyer: Wenn wir das Thema Meinungsfreiheit erst mal ansteuern, das ist ja natürlich ein ganz zentrales Element von Aufklärung immer gewesen. Würden Sie denn sagen, Meinungsfreiheit heute sollte absolut gelten in unseren Ländern? Oder gibt es Grenzen?

Garton Ash: Selbstverständlich nicht, selbstverständlich nicht – das ist nie der Fall gewesen, sondern, wie Sie richtig sagen, gehört das zum absoluten Wesen der Aufklärung, so wie bei Immanuel Kant - sapere aude! – wage es, deinen eigenen Verstand zu benutzen. Und dazu gehört die offene Diskussion, aber die Frage nach der Meinungsfreiheit ist immer auch die Frage nach den legitimen Grenzen der Meinungsfreiheit.

Dort beispielsweise, wo es unmittelbar zur Gewalt führt, darf das nicht gesagt werden oder soll bestraft werden. Oder nehmen Sie was anderes, der Schutz der Privatsphäre. Wir haben es gerade neulich gesehen, was die National Security Agency plus Google, Facebook und Twitter über uns wissen, das ist viel mehr als die Stasi. Es ist der Traum der Stasi, und da muss es tatsächlich Grenzen geben, auch einen Schutz der Privatsphäre. Also die ganze Diskussion geht darum, wo eben die legitimen und wo die illegitimen Grenzen sind.

Meyer: Wenn ich da bei der NSA-Affäre einhake, dann ist jemand wie Ed Snowden, der das öffentlich macht, für Sie eine aufklärerische Figur?

Garton Ash: Er ist es in der Tat – in der Tat, und in dem Falle, soweit man bis jetzt weiß, wie er sich präsentiert, wie er argumentiert, und das gehört auch zum Thema Meinungsfreiheit, dass der Aufständische, in diesem Fall der sogenannte Whistleblower, aber in anderen Umständen auch der Widerstandskämpfer, der sich sozusagen gegen das geltende Recht im Namen der Gerechtigkeit oder der Wahrheit stellt, so wie die Dissidenten auch in Osteuropa, das ist ein sehr wichtiges Element.

Meyer: Grenzen der Meinungsfreiheit wurden ja in den letzten Jahren vor allem auch diskutiert bei der Frage: Setzt die Religion da Grenzen oder die religiösen Gefühle anderer Menschen? Das war ja der Kern des Streits um die Mohammed-Karikaturen. Was würden sie da sagen? Welche Rolle spielen Religiöse Gefühle?

Garton Ash: Ja, genau. Das spielt in meinem neuen Buch zur Meinungsfreiheit eine entscheidende Rolle. Und hier gilt es zunächst zu sagen: Eisernes Gesetz ist keine Androhung der Gewalt. Und bei diesen Mohammed-Karikaturen oder bei Salman Rushdie ist, was absolut inakzeptabel ist, diese Bedrohung der Gewalt: Wenn du das sagst, dann bringen wir dich um. Das darf so nie gesagt werden, ja? Das ist eigentlich das Grundprinzip. Wenn es um das Verhältnis zur Religion geht, dann versuchen wir in diesem Projekt, das wir in Oxford haben, freespeechdebate.com, die Unterscheidung zu machen zwischen einem Respekt für den Gläubigen, für den Mensch, für die Tatsache, dass er glaubt, und dem Inhalt des Glaubens. Also im Geiste der Aufklärung, überhaupt in einer offenen Gesellschaft, müssen wir imstande sein, den Inhalt des Glaubens infrage zu stellen und auch zu kritisieren.

Meyer: Auch satirisch darzustellen?

Garton Ash: Und wie, und natürlich, aber wie! Ob ich tatsächlich dann sozusagen als redaktionelle Entscheidung oder persönliche Entscheidung als Intellektueller das machen will, das steht auf einem anderen Blatt, aber ich muss das Recht haben, dies zu tun. Und dann soll ich das gut überlegen, aber bitte nicht, weil ich Angst habe ums Leben, ja, sondern weil ich das nicht unbedingt für notwendig halte.

Aber, um ein anderes Beispiel zu geben, nehmen wir die Scientology: Also Respekt für Religion oder für Glauben kann doch nicht heißen, dass ich nicht sagen kann, was L. Ron Hubbard, der Gründer der Scientology, da hingeschrieben hat, ist ein völliger Quatsch.

Meyer: Sie haben mal gesagt im Blick auf die Meinungsfreiheit, Sie wären dafür, einen konsequent liberalen Weg zu gehen, das heißt, Tabus möglichst konsequent abzubauen. Hieße das zum Beispiel im Bezug auf Deutschland, die bei uns geltende Regelung, dass die Leugnung des Holocaust strafbar ist, diese Regelung zu überdenken, abzuschaffen?

Garton Ash: Ja, das ist die Konsequenz, und ich weiß natürlich als Zeithistoriker sehr gut, aus welchen geschichtlichen Gründen, tief moralischen Gründen dieses Verbot existiert. Aber ich werde auch morgen etwas mehr dazu sagen, eben, dann kommen andere Völker und Gruppen und sagen, wenn wir die Verleugnung des Holocaust kriminalisieren – denn es geht um die Kriminalisierung, nur um die Kriminalisierung –, dann warum nicht den Genozid an den Armeniern, und wenn an den Armeniern, warum nicht die Sklaverei, und wenn die Sklaverei, warum nicht auch die wirklich großen Verbrechen des sowjetischen Kommunismus, sprich des Gulags.

Und insofern vermehren sich die Tabus und vermindern sich wirklich die Räume, wo man frei diskutieren kann. Dazu kommt noch, dann kommt ein europäischer Muslim und sagt: Ihr Europäer, Christen, Aufklärungsliberale, schützt per Strafgesetz das, was für euch heilig ist – und ich würde sagen, für mich persönlich ist das Gedenken an den Holocaust im säkularen Sinne sacred, nicht wahr? –, aber bei Mohammed-Karikaturen sagt ihr ja, ja, Redefreiheit muss sein. Insofern glaube ich tatsächlich, dass eine aufgeklärte, durchdachte liberale Konsequenz von uns verlangt, dass wir immer dort, wo es möglich ist, solche Tabus abbauen, und nicht vermehren.

Meyer: Deutschlandradio Kultur, wir sind im Gespräch mit dem Historiker Timothy Garton Ash über angewandte Aufklärung. Wir erleben ja heute, dass wir in einem viel engeren Kontakt stehen mit der islamischen Welt, die nicht die Aufklärungsgeschichte hinter sich hat, wie wir das in Europa erlebt haben. Verändert das auch unsere Idee von Aufklärung, unsere aufgeklärte Welt?

Garton Ash: Wir sollten nicht davon ausgehen, dass es nicht aufklärerische Momente, aufklärerische Gedanken in anderen Kulturen gibt. Die gibt es bei Konfuzius, die gibt es beim indischen Kaiser Akbar oder Ashoka, die gibt es auch in der Welt des Islams.

Als die Christen in Europa sich gegenseitig umgebracht haben, diskutierte man beim Mogulen-Kaiser Akbar in Indien über die verschiedenen Religionen. Also ich glaube, wir sollten offen sein für diese aufklärerischen Tendenzen, auch in anderen Kulturen, aber gleichzeitig absolut standfest, entschieden, auch mutig sein in der Verteidigung von den Kernbeständen der Aufklärung.

Meyer: Ich würde gern noch mal zu dem Themenbereich Meinungsfreiheit zurückkommen, mit einem etwas anderen Blick vielleicht. Wir haben ja heute die Situation, dass wir uns heute 24 Stunden am Tag mit allen nur denkbaren Informationen versorgen können. Und der Zugang zu Informationen, das ist ja auch ein Kernmoment von Aufklärung. Andererseits haben wir heute diesen Overkill an Informationen und sind – ja, vielleicht sind wir überfordert von der Menge an Informationen, die uns heute erreicht. Und macht das vielleicht tatsächliche Aufklärung, tatsächliche Informiertheit wieder zunichte?

Garton Ash: Wir erleben die größte Revolution in der Kommunikation und Informationsverteilung seit Johannes Gutenberg, und alle technologische Revolution, da gibt es Chancen und Gefahren. Die Gefahr ist zum Beispiel, dass die Privatheit völlig verloren geht. Die Gefahr ist eine Balkanisierung der Öffentlichkeit, dass jeder nur für sich mit dem Gleichgesinnten kommuniziert.

Aber die Chance ist noch viel größer – es ist ja erstaunlich: Ich habe die ganze Library of Congress in meinem Computer vor mir auf dem Schreibtisch. Ja, ich kann mit schätzungsweise drei bis vier Milliarden Menschen auf dieser Welt unmittelbar kommunizieren. Was sind das da für Chancen? Und es geht wie immer darum, die Gefahren dieser neuen Technologien zu vermeiden und die Chancen zu ergreifen.

Meyer: Ich sage das auch, weil der mündige Bürger heute ja vor vielen Herausforderungen steht: Einmal dieses Übermaß an Information, dann muss er in ganz vielen Lebensbereichen ständig Entscheidungen treffen, sich informieren über die beste Krankenversicherung, die beste Altersvorsorge, in immer mehr Bereichen der Herr seines eigenen Lebens werden, was eine Chance, natürlich, aber vielleicht auch etwas ist, was den Einzelnen am Ende überfordert.

Garton Ash: Ich glaube, würde Immanuel Kant hier sitzen, dann würde er sagen, ergreif' doch die Chance dieses Internets, habe nicht Angst davor, ja? Bei ihm waren Wut und Wagnis wirklich sehr wichtige Begriffe, wir müssen es einfach wagen, uns selbst vertrauen, dass wir das auch können, aber auch strukturell, dass wir wirklich eine gemeinsame Öffentlichkeit beibehalten. So, denke ich, sind zum Beispiel Public Service Broadcasting wie BBC – was wäre Großbritannien ohne BBC? – oder die öffentlich-rechtlichen Anstalten in Deutschland, diese Elemente auch strukturell von einer gemeinsamen Öffentlichkeit, müssen wir ganz bewusst schützen und unterstützen, weil der Markt wird das nicht machen allein.

Meyer: Angewandte Aufklärung, das ist das Thema des Festvortrages, den Timothy Garton Ash morgen beim Leibnitztag in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften halten wird. Herr Garton Ash, ganz herzlichen Dank für das Gespräch!

Garton Ash: Hat mich gefreut!

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