Tiefenbohrung in die "deutsche Seele"

21.09.2007
Er ist wieder da. Schon wieder. Nachdem in den letzten Jahren der hunderste Geburtstag der "Buddenbrooks", ein allzu sehr gelobter Heinrich-Breloer-Dreiteiler und der 50. Todestag des Autors einen Hype nach dem anderen erzeugt haben (und Auflagen, von denen die meisten deutschen Gegenwartsschriftsteller nicht einmal zu träumen wagen), ist es nun eine aufwendige Neuausgabe des "Doktor Faustus", die Thomas Mann gesteigerte Aufmerksamkeit sichert.
Seit Monaten bereits ist der "Faustus" ein Thema für Feuilleton-Aufmacher und Titelgeschichten. Die lange erwartete und vor allem aufgrund der komplizierten Textlage immer wieder verschobene Edition (allein der Kommentar umfasst über tausend Seiten) ist dabei nur ein Anlass, um dem bis heute heikelsten Roman Thomas Manns, entstanden zwischen 1943 und 1947, neue Aktualität zuzusprechen.

Während den "Buddenbrooks" und dem "Zauberberg" bereits unangefochtene Klassizität zukommt, wird über die Gelungenheit des "Faustus" bis heute gestritten. Für die einen ist die fingierte Biographie des Komponisten Adrian Leverkühn Manns unübertroffenes Gipfelwerk. Andere bemängeln - bei allem Lob vieler einzelner Passagen - die forcierte und nicht ganz schlüssige Komposition. Musikerroman, Deutschlandroman, Münchner Gesellschaftsroman, Faschismusanalyse und "radikale Autobiographie" - diese fünf Handlungsstränge seien denn doch nicht ganz überzeugend verwoben.

Immer noch hadern manche auch mit der etwas hölzernen Figur des Biographen Dr. phil. Serenus Zeitblom, dessen von Thomas Mann behauptete "geheime Identität" mit dem kühnen Tonsetzer zu den abgründigsten Momenten des Romans gehört. Und wie passt Leverkühns intellektuelles Ethos der "glühenden Konstruktion" zusammen mit der vom Teufel inspirierten, rauschhaften Genialität? Erscheint nicht nach sechzig Jahren die allzu intrikate und anfechtbare Musikphilosophie des "geheimen Rats" Theodor W. Adorno, dessen Anteile an den Beschreibungen der Leverkühnschen Kompositionen erheblich sind, als befremdliche Fracht des Romans - weniger souverän integriert als die vielfältigen Bildungsgüter, die Thomas Mann sonst verarbeitete?

Das sind einige der Fragen, die immer noch offen sind. Egal zu welchen Antworten man kommt, hoch faszinierend ist der Roman in seinen Gesellschaftsszenen und Figurenporträts - sei es der tragischen Schwestern Ines und Clarissa Rodde, sei es des leichtfertigen Geigers Rudi Schwertfeger oder des im Konjunktiv lebenden, ständig mit seinem Beruf hadernden Übersetzers Rüdiger Schildknapp. Großartige, unvergessliche Gestalten.

Mit neuen Augen liest man auch die Analyse des deutschen Verhängnisses. Ökonomische, politische oder sozialgeschichtliche Faktoren des deutschen Sonderwegs in den Nationalsozialismus interessieren Thomas Mann dabei allenfalls am Rand, was lange Zeit bemängelt wurde. Sein Zugang ist vielmehr kultur- und mentalitätsgeschichtlich - eine Perspektive, die seit einiger Zeit Konjunktur hat und mit der Thomas Mann einen heutigen Nerv trifft.

Der argumentative Clou des "Faustus" besteht darin, dass Deutschland nicht im Widerspruch zu seiner hohen Musikkultur den Weg in die nationalsozialistische Barbarei gegangen sei, sondern geradezu in Berufung auf sie. Und dies nicht bloß deshalb, weil Adolf Hitler ein fanatischer Wagnerianer war und weil die Musik mehr als jede andere Kunst der kulturellen Verbrämung der Nazi-Herrschaft diente. Thomas Mann geht der Frage nach, ob der deutschen Kultur nicht von langer Hand her die Fatalität eingeschrieben war. Die deutsche Musik ist für ihn "Seelenzauber" - allerdings mit womöglich finsteren Konsequenzen.

Die kollektive Anfälligkeit für jene Rückkehrsehnsüchte aus der komplizierten Moderne, die sich politisch im Erfolg des Nationalsozialismus niederschlug, ist vorgezeichnet in den Kulturerzeugnissen der vorausgehenden Epoche, in der mentalitätsgeschichtlichen Inkubationszeit. Freilich besteht keine allegorische Analogie zwischen Leverkühn und dem nationalsozialistischen Deutschland.

Die Kategorie, mit der sich das Verhältnis von Musik und Geschichte im Roman angemessen erfassen lässt, ist vielmehr die Antizipation. So weist es auf die totalitären Aspekte der nationalsozialistischen Herrschaft voraus, wenn Leverkühn das "Unthematische" aus einer Komposition zu eliminieren sucht und das Ideal "vollkommener Organisation" des musikalischen Materials verfolgt.

Leverkühn strebt die "Führerschaft" in der Musik an, die welterobernde Genietat. Er will die "lähmenden Schwierigkeiten der Zeit durchbrechen" und der "Zukunft den Marsch schlagen". So wenig er sich mit den protofaschistischen Diskursen des Münchner Geisteslebens gemein macht - der Tonsetzer ist ein Meister aus Deutschland, der am musikalischen Superioritätsideal der Deutschen nicht nur teilhat, sondern es verkörpert.

Auch wenn man (wie jüngst wieder Rüdiger Safranski in seinem "Romantik"-Buch) die Frage stellen kann, ob Thomas Mann dem deutschen Faschismus nicht die Ehre einer allzu tiefsinnigen Deutung erweist - es gibt keine bessere Tiefenbohrung in die "deutsche Seele" als diesen hochkomplexen, erzählerisch nicht immer auf "Zauberberg"-Niveau operierenden, aber intellektuell ungemein ergiebigen Roman, der wie kein anderer Thomas Manns noch den Streit und die Debatte inspiriert.


Rezensiert von Wolfgang Schneider


Thomas Mann: Doktor Faustus
Große kommentierte Frankfurter Ausgabe in zwei Bänden.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007, 741 und 1269 Seiten, 84 Euro