Thüringen

Gottesdienst im Sperrgebiet

Ein Denkmal aus einem Stück Grenzzaun mit schwerer Zange und Pfeilern in den Farben Schwarz, Rot und Gold steht zur Erinnerung an die Überwindung der deutschen Teilung nahe dem alten Grenzübergang Herleshausen/Wartha.
Ein Denkmal steht zur Erinnerung an die Überwindung der deutschen Teilung nahe dem alten Grenzübergang Herleshausen/Wartha. © picture alliance / dpa / Uwe Zucchi
Von Blanka Weber · 10.05.2015
Die älteste und kleinste Fachwerkkirche Thüringens steht in der Gemeinde Wartha am Fluss Werra. Ein geschichtsträchtiger Ort: Die Kirch stand an der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Der Ort war während der DDR-Zeit Sperrgebiet.
Es tut sich nichts. Kein einziger Ton ist der Orgel zu entlocken.
"Das haben wir ja noch gar nicht gehabt."
Ilse Altenbrunner ist ratlos. Die 77-Jährige kümmert sich seit Jahrzehnten um die kleine Kirche. Aber an jenem Sonntagmorgen, eine halbe Stunde vor dem Gottesdienst, bleibt es still im Raum. Auch der Organist weiß keinen Rat.
"Sie ist total tot."
"Noch nicht mal gebrummt."
Irgendwann funktioniert sie dann doch, und es ist alles wie immer in der kleinsten und ältesten Fachwerkkirche Thüringens.
Wartha war während der DDR- Zeit Sperrgebiet
Die Orgel wurde 1846 gebaut. Von den sechs Registern gehen nur noch fünf, und auch der Klang hat über die Jahre gelitten, aber was soll's Es geht auch so, sagt der Musiker.
Alexander Blume spielt in fünf Gemeinden. Der Musiker und Musikpädagoge hilft immer dann aus, wenn die ehrenamtliche Organistin verhindert ist. Er lebt in einem der kleinen ehemaligen Grenzdörfer. Denn Wartha war während der DDR- Zeit Sperrgebiet:
Blume: "Ich weiß, dass es da ganz viele unschöne, auch grausame Dinge gab, sehr viel Leid, Familien auseinander gerissen wurden. Ich weiß, wenn man ins Nachbardorf fahren wollte, dass das nicht ging, dass man einen Riesenumweg fahren musste, selbst wenn beide Dörfer im Grenzgebiet lagen, auf DDR-Seite, weil einfach dann die Straße gesperrt war. Also Familien, die Jahrzehnte, Jahrhunderte zusammengelebt haben, sind dadurch eben auch teilweise entfremdet worden. Es war einfach kompliziert, sich zu treffen."
Wenn heute die Glocken läuten, geschieht das wie seit Jahrhunderten: per Hand. Auf der Empore steht ein Gemeindemitglied und zieht an dem breiten Strick, der aus dem Glockenstuhl vom Dach nach unten hängt.
Sieben Personen kommen zum Gottesdienst
So langsam füllen sich die Plätze. Sieben Personen sind an diesem Sonntag anwesend und damit immerhin zehn Prozent aller Gemeindemitglieder.
Der Altar ist mit Blumen geschmückt, das Taufbecken mit Blättern und orangefarbenen Lampionfrüchten. Ilse Altenbrunn kennt die Kirche seit ihrer Kindheit und lebt im Haus gegenüber:
"Ja ich bin eine Eingeborene, ich bin hier in dem Haus geboren."
Ein Bauernhaus von 1832. Die kleine Gemeinde Wartha am Fluss Werra liegt direkt am ehemaligen Grenzstreifen. Das ist ihre Heimat. Eine andere könne sie sich gar nicht vorstellen, auch wenn heute nur noch wenige Menschen in die Kirche gehen.
Der Pfarrer ist für mehrere Dörfer zuständig
Altenbrunn: "Aber ganz früher muss es hier auch einen Ortspfarrer gegeben haben."
Heute ist das anders. Pfarrer Rolf Lakemann ist für mehrere Dörfer zuständig. Einen Gottesdienst gibt es daher nur alle drei Wochen. Der gebürtige Niedersachse schätzt an der Kirche vor allem das Kreuz aus dem 13. Jahrhundert
Lakemann: "Das finde ich ein sehr schönes Kreuz. Wenn man sich das anguckt– Und ich sehe auf das Kreuz und die Einfachheit und Schlichtheit, verbunden mit dem wunderschönenSchmuck. Dageht einem das Herz auf, wenn man hier rein kommt."
Die Kirche wurde 1586 erbaut, das Land befand sich in den Wirren nach der Reformation. Nur wenige Kilometer entfernt, auf der Wartburg in Eisenach, hatte Luther die Bibel übersetzt.
Der Fluss sollte eine Barriere bilden
Wartha war damals ein verschlafenes Dörflein. Die Kirche wurde aus Fachwerkbalken errichtet: zehn Meter lang und knapp sechs Meter breit. Die Empore ist mit schlichter Bauernmalerei verziert. Der tief dunkle Eichenbalken in der Mitte des Raumes ist original und stützt noch immer das Gebälk.
In den letzten Kriegstagen 1945 wurde, wenige Meter entfernt, die Werrabrücke von der deutschen Wehrmacht gesprengt. Der Fluss sollte eine Barriere bilden. Die Fenster gingen zu Bruch, die Kirche blieb stehen und erhielt vom neuen Pfarrer aus Masuren, Glasbilder, die ihn an seine Heimat erinnerten.
Es ist nur eine der unzähligen Geschichten dieses kleinen Hauses, erzählt Ilse Altenbrunn und zeigt auf eine Landkarte, die sie in der Kirche befestigt hat.
Altenbrunn: "Weil ja viele Leute, die kommen, die in der Kirche sind, und dann ist die zweite Frage: die Grenze."
Weil die offiziellen DDR-Karten meist gefälscht waren, hat sie von einem Nachbarn eine damals interne DDR- Flurkarte vergrößern lassen.
Altenbrunn: "Wo die Grenzzäune eingezeichnet waren, denn das sind ja verschiedene Grenzzäune, die durch diese Flur gelaufen sind."
Auch Ilse Altenbrunns Leben bestand aus Passierscheinen, Genehmigungen und vor allem viel Vorsicht, wenn man wie sie in der Landwirtschaft arbeitete und am Rande des Grenzzaunes niedrig wachsendes Getreide oder Kartoffeln für die sozialistische Genossenschaft anbaute. Und da war noch die Werra.
Altenbrunn: "Damit niemand durch die Werra durchschwimmen konnte, war dieses Sperrwerk, ein Gitter, das ging bis zum Grund der Werra."
Was heute wie ein Biotop, ein landschaftliches Idyll wirkt, hat auch eine dunkle Seite: Menschen verloren ihr Leben, wurden bei der versuchten Flucht ertappt und direkt von Einheimischen an die Stasi ausgeliefert. Mancher Traum von Freiheit war genau hier in Wartha zu Ende.
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