Thüringen

Das Land der Mitte, das Maß der Mitte

Alltägliche Straßenszene in Weimar (Thüringen), aufgenommen am 22.06.2013
Alltägliche Straßenszene in Weimar © picture-alliance / dpa-ZB / Soeren Stache
Von Henry Bernhard · 09.07.2014
Thüringen - das Land der Mitte, also das Maß der Mitte, also deutsches Mittelmaß. Und wie nun schaut das deutsche Mittelmaß aus? Was hat Thüringen zu bieten außer Weimar, Goethe und Rostbratwurst?
DER war auch hier
Aufwachsen in Weimar. Ist zunächst einmal ein Aufwachsen in einer Kleinstadt. Nur die Nachbarn sind andere als anderswo. Es geht nicht um B-Promis wie den Scorpions-Sänger in Hannover oder eine halb-bekannte Schauspielerin in München, auch nicht um bekannte Politiker wie etwa in Berlin. Nein, in Weimar geht es immer um das ganz Große: Goethe, Schiller, Liszt, Nietzsche - sie waren meine Nachbarn. Wenn auch tote. Aber sie gehörten dazu wie die Nachbarin, die aus Ostpreußen kam und uns immer Königsberger Klopse vorbeibrachte.
Goethe wohnte am Frauenplan - zu Fuß zehn Minuten von mir. Als Schüler habe ich im Sommer in seinem Haus gearbeitet, als Gehilfe des Hausmeisters. Wer einmal die Lampe in Innenhof des Goethe-Hauses geputzt hat, an der die Fliegenscheiße von Jahrhunderten klebt, der hat ein anderes Verhältnis zum Großschriftsteller. Und wer Goethes Haus verlässt und in die Seifengasse einbiegt, gleich, wenn man rauskommt, rechts, ist ohnehin im 18. Jahrhundert gelandet. Kopfsteinpflaster, dünnes Licht, historische Mauern. Noch ein paar Meter weiter und man ist im Goethe-Park. Nachts, wenn die Touristen weg waren, waren wir dort. Und wollten nichts anderes als Goethe, der alte Lebemann, mit seiner Christiane Vulpius, da unten in seinem Gartenhaus. Wir mussten uns mit der Wiese davor begnügen.
Nietzsche? Wohnte weiter oben auf dem Berg. Gleich neben dem Funkhaus, das ursprünglich mal eine Nietzsche-Weihehalle werden sollte. Seine Einrichtung war von Henry van de Velde, dem belgischen Architekten und Bauhaus-Vorläufer. Auch er ein Nachbar. Apropos Bauhaus: Neben seinem ersten Musterhaus "Am Horn" waren wir im Winter Schlitten fahren. Das Bauhaus war mir und den anderen auf unseren Holzschlitten reichlich egal. Aber es war da. So wie wir.
So wie auch das "Gauforum", dieser Stein gewordene Größenwahn mit Glockenturm und "Halle der Volksgemeinschaft", der täglich unser Auge beleidigte, monströs und grau. Der Gauleiter und Hitler-Günstling Fritz Sauckel hatte hier residiert. Oben, mit schönem Blick über die Stadt, hatte er sich zudem eine Villa bauen lassen, die eher einem kleinen Schloß glich. Hier haben wir als Oberschüler mit mexikanischen Studenten gefeiert und Salsa getanzt. Von Sauckel war nicht die Rede. Nicht bei uns, nicht in der Stadt: Goethe und Schiller hatte die SED fest umarmt, mit den Nazis wollte sie nichts zu tun haben. Die Nazis, die waren oben auf dem Ettersberg in Buchenwald - und 1945 dann in den Westen geflüchtet.
Aber Buchenwald war immer da. Ganz nah, wo ich es nie vermutet hätte: Mein Vater fragte vor ein paar Jahren, ob ich das kleine Schränkchen haben wolle, das bei uns im Flur stand. Es hatte mich durch meine Kindheit begleitet. Oben drauf das Radio, drin die Hausschuhe. Ich müsste nur wissen, sagte mein Vater damals, dass das Schränkchen aus Buchenwald stammen könnte. Unser Nachbar, der Mann der Ostpreußin, der sich längst am lokalen Magenbitter totgesoffen hatte, habe behauptet, im Frühjahr 1945 oben auf dem Ettersberg eine der Offiziersvillen neben dem KZ geplündert zu haben. Nein, dieses Schränkchen wollte ich nicht in meiner Wohnung haben. Aber die Buchenwald-Gedenkstätte holte es ab. Ja, mit 99%iger Sicherheit stamme es aus der Häftlingsschreinerei beim KZ, bescheinigte man mir. Fast 20 Jahre lang hatten meine Hausschuhe darin gesteckt. Auch das ist Weimar.
Was Weimar bedeutet, merkt man oft erst in anderen Städten, wenn Plaketten an alten Häusern davon künden, wer dort mal gewohnt habe. Historische B-Promis allenfalls - denkt man da als Weimarer mitunter etwas belustigt. Und: Bei uns würde DER doch keine Plakette bekommen. Ganz lässig spielt der Weimarer in so einem Fall seinen Trumpf. Bach, Johann Sebastian. Der zieht immer und zwar weltweit. Ein Nachbar. Logisch.
Kleinstaaterei
Kleinstgemeinden, Landkreise und kreisfreie Städte gibt es in Thüringen natürlich auch und vor allem en masse. Der Freistaat hat es geschafft, die Kleinstaaterei in das 21. Jahrhundert zu implantieren. Die Operation Kleinstaaterei kostet zwar Geld, viel Geld, aber ...
Thüringen ist kein großes Land. Es ist sogar eines der kleinsten der deutschen Bundesländer. Kaum vorstellbar, dass es vor knapp 100 Jahren aus 7 noch kleineren Ländern zusammengefügt wurde! Seitdem erst gehört auch die Landeshauptstadt Erfurt zu Thüringer Gebiet, denn Erfurt war zuvor preußisch. Ein historischer Flickenteppich also, aber einer mit Geschichte.
Helmut-Eberhard Paulus: "Also, wir haben hier in Thüringen eindeutig die höchste Residenzendichte; das ist absolut unbestritten. Residenzschlösser, also Schlösser, die für ein eigenes Land stehen. Da gibt es nichts Dichteres als Thüringen, das man ja auch als ein Land der Kleinstaaterei bezeichnet hat."
Helmut-Eberhard Paulus muss es wissen, denn er ist der Direktor der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten.
"Kleinstaaterei klingt etwas negativ. Ich sage lieber: Vielfalt und Bürgernähe. Fast in jedem der Territorien Thüringens hat der Bürger seinen Fürsten nicht nur gekannt, sondern im Lauf seines Lebens auch mehrfach zu Gesicht bekommen. Und das ist zu einem großen Teil erhalten geblieben."
Landesdenkmalpfleger Holger Reinhardt zeigt Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) auf Schloss Reinhardsbrunn historische Aufnahmen des vom Verfall bedrohten Denkmals.
Landesdenkmalpfleger Holger Reinhardt zeigt Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) auf Schloss Reinhardsbrunn historische Aufnahmen des vom Verfall bedrohten Denkmals.© dpa / picture alliance / Michael Reichel
Heute geht es sogar noch weiter: Thüringen schrumpft und verliert täglich Menschen. Und so steuern wir auf ein Thüringen zu, in dem bald nicht nur jeder seinen Landrat kennt, sondern jeder Landrat auch seine Bürger. Denn Thüringen hat - für seine Größe - mehr kreisfreie Städte als jedes andere Bundesland, und doppelt so viele Kommunen wie Sachsen, bei nur der Hälfte der Einwohner. Thüringen braucht eine Strukturreform! ruft die Politik, rufen Verwaltungsfachleute. Die seit 24 regierende CDU aber will stattdessen ...
Christine Lieberknecht: "... Stabilität und Kontinuität ..."
Damit ist Christine Lieberknecht, Thüringens Ministerpräsidentin, immer gut gefahren, denn auf dem flachen Land liegt die Macht der CDU. Ihr härtester Konkurrent, Bodo Ramelow von der LINKEN, erklärt, warum.
Bodo Ramelow: "Die Strategie der CDU war, über Jahrzehnte, zwei Jahrzehnte, hinweg: 'Wir sind die Thüringen-Partei! Wir sind gut verankert über die Landräte und Oberbürgermeister.' Und über diese Strategie einer Landräte-Politik hat man sozusagen eine Landratsrepublik entwickelt. Tatsächlich ist das alles nicht mehr tragfähig."
Es knirscht im Gebälk, vor allem im Finanzgebälk, des Freistaats, der im Herzen, im grünen Herzen sozusagen, ein Flickenteppich von Kleinststaaten geblieben ist. Und jeder Flicken, jeder Landkreis, jede kreisfreie Stadt braucht eine eigene Verwaltung; und die kostet Geld. Das aber wird knapper, Thüringen muss sparen. Beispiel Eisenach: Eine prosperierende Stadt denkt man, OPEL lässt dort dem Adam und den Corsa montieren, die Arbeitslosigkeit ist niedrig. Aber die Stadtkasse ist permanent leer. Denn das Geld bleibt im Speckgürtel.
Katja Wolf: "Der Landkreis weiß, dass er natürlich auch von dem Eisenacher Leuchtturm auch lebt. Der Landkreis ist finanziell absolut solide. Und, wenn ich das so sagen darf: Der schwimmt oben auf der Wurstsuppe!"
Katja Wolf von der Linken ist Eisenachs Oberbürgermeisterin. Wenn sie in die maroden Schulen oder die veraltete Feuerwehr investieren muss, weil es gar nicht mehr anders geht, muss sie nach Erfurt, betteln gehen um Landeszuschüsse. Die Eisenacher Museen schließen schon mal über den Winter, Stadtsanierung geschieht manchmal mehr mit Spenden als mit städtischem Geld. Kreditwürdig ist die Stadt schon lange nicht mehr. Einziger Ausweg:
Katja Wolf: "Am Ende gehe ich davon aus, dass der Stadt gar nichts anderes übrig bleibt als die Kreisfreiheit aufzugeben. Einfach, um auch gemeinsam wieder zu gesunden!"
Ähnlich sieht es in Gera aus, eine Stadt, deren Stadtwerke und die Verkehrsbetriebe insolvent sind und die selbst permanent an der Pleite vorbeischlittert. Eine Strukturreform tut dringend Not. Dies weiß auch der Finanzminister Wolfgang Voß, der sich windet, aber auf der CDU-Parteilinie bleibt.
Wolfgang Voß: "Thüringen ist ja sehr, sehr, sehr, sehr kleinteilig, wenn sie so wollen. Aber, wie wir immer sagen: man kann das nicht am Reißbrett machen."
Nun kommt es darauf an, wer im Herbst Ministerpräsident in Thüringen wird: Wieder Christine Lieberknecht ...
"... Stabilität und Kontinuität ..."
Bodo Ramelow
Bodo Ramelow© dpa/Martin Schutt
Oder Bodo Ramelow:
"Jetzt heißt es, mit allen beteiligten die Restrukturierung vorzunehmen! Es geht nicht um Gleichmacherei! Es geht darum, Verwaltungsstrukturen zusammenzuführen, wo es Sinn macht!"
Bei den Koalitionsverhandlungen, die entweder CDU oder LINKE mit dem Juniorpartner SPD führen wird, wird das Thema Kleinstaaterei ganz obenan stehen.
Politikermaß
Wir bleiben beim Geld und der Kleinerei, wenden uns also der Politik zu. Große Worte verliert der Thüringer über diese nicht, weil : sie soll nicht überragend sein. Sagt er und schaut sich um, weil dem Freistaat der letzte bundesweit bekannte Politiker abhanden gekommen ist, sei, sein soll ...
Sicher, die Konkurrenz ist groß, Bewerber gibt es viele - und die Frage, ob man mittelmäßig steigern kann, ist ungeklärt. Dennoch: Kennen sie berühmte lebende Thüringer? Bedeutende? Kennen sie überhaupt einen Thüringer? Vielleicht noch Christine Lieberknecht, die Ministerpräsidentin!
Christine Lieberknecht: "Die Thüringer können stolz sein auf ihr Land. Wir leben in einer gefestigten Demokratie und haben eine wunderbare Landesverfassung."
... und ein großartiges Redetalent als Ministerpräsidentin. Bundespolitisch schlägt sie keine allzu großen Wellen. Die größte Aufmerksamkeit hat Christine Lieberknecht bislang damit errungen, dass sie ein Mindestlohnmodell vorschlug, als das in der CDU noch mutig war. Einziger Wermutstropfen: Ausgearbeitet hatte das Model ihr Wirtschaftsminister Matthias Machnig. DER war wirklich ein bekannter Thüringer, erfolgreicher SPD-Wahlkampfmanager auf Bundesebene, zugereist zwar und mit aufgedrucktem Wiederabreisedatum, aber Machnig machte Wind, wo immer er auftauchte.
Matthias Machnig: "Also, ja, meine sehr verehrten Damen und Herren: Das ist ein guter Tag für Thüringen, das ist ein guter Tag für Arnstadt und das ist ein guter Tag für die Beschäftigten hier."
Als Machnig in Arnstadt den verunsicherten BOSCH Solar-Beschäftigten eine Perspektive bieten konnte, waren seine Tage in Thüringen bereits gezählt. Eine Doppelbesoldungsaffäre hatte dem allgegenwärtigen, täglich in den Medien präsenten Alphatier einen heftigen Karriereknick beschert. Sein Nachfolger als Wirtschaftsminister wurde der SPD-Fraktionsvorsitzende im Landtag. Sein Name ist hier unerheblich. Aber Machnig wäre nicht Machnig, wenn er nicht seinen Genossen in der SPD noch einen bitteren Abschiedsgruß mitgegeben hätte:
Matthias Machnig: "Ich wünsch meiner Partei viel Erfolg. Ich hoffe, dass die SPD gestärkt aus den Landtagswahlen hervorgeht. Dabei muss man immer an eines denken: Innerparteiliche Mehrheiten sind noch keine gesellschaftlichen Mehrheiten. Weil: Darüber wird am Ende des Tages entschieden an der Wahlurne."
Zu gut Deutsch: Mit dem Parteivorsitzenden als Spitzenkandidaten gewinnt ihr im September keinen Blumenstrauß bei den Landtagswahlen. Nehmt die Sozialministerin, die ist wenigstens bei denen beliebt, die sie kennen. Nun ist Heike Taubert Spitzenkandidatin, aber ihr Auftritt nach der Nominierung klang so ein bisschen wie das Pfeifen im Walde.
Heike Taubert: "Ich muss mich dafür, glaube ich, auch nicht rechtfertigen, dass ich jetzt Spitzenkandidatin geworden bin. Und ich finde es einfach auch nicht fair, wenn man uns unterstellt, dass wir nicht was erreichen können! Und deswegen möchte ich auch, dass uns ne faire Chance gelassen wird, da mit auch in Regierung federführend zu sein."
Ihren Konkurrenten von der Linken aber, Bodo Ramelow, watsche sie in einem Anflug von Forschheit nebenbei mit ab.
Heike Taubert: "Bodo Ramelow hat sich ja in 15 Jahren Opposition ganz gut eingerichtet. Er kommt mir so vor wie ein Stubenkater: Er ist zahm und rundlich geworden."
Bodo Ramelow aber, einem der wenigen begabten Redner im Land, zahlte es ihr im Landtag heim.
Bodo Ramelow: "Ich frage die Landesregierung: Dürfen überhaupt - und zwar unabhängig, ob rundlich oder nicht - Stubenkater in die Staatskanzlei? Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung, damit keine kleinen, grauen Mäuschen in der Staatskanzlei sich der Akten bemächtigen? Wäre nicht der Einsatz eines Stubenkaters sinnstiftend, falls Mäuse in der Staatskanzlei sich verbreiten oder gar auf dem Tisch tanzen?"
Der Gedanke, dass Mäuse in der Staatskanzlei auf dem Tisch tanzen, ist gar nicht mal so abwegig: Der Staatskanzleiminister musste Anfang des Monats nach zu vielen Skandalen seinen Hut nehmen - ein Viertel Jahr vor der Landtagswahl. Die nun eigentlich zuständige Staatssekretärin hält die Ministerpräsidentin nicht für kompetent, den Posten auszufüllen. Also bleibt dieser leer bis zur Wahl. Mit Mittelmaß wäre man in Thüringen manchmal schon ganz zufrieden.
Rostbratwurst
In Thüringen geht es um die Wurst, um die Rostbratwurst. Und jeder gibt seinen Senf dazu. Meist lobender Art. Daran erkennt man aber nicht ... den Thüringer, sondern an der Grillzange. Weil, ein Thüringer ohne Grillzange ist ein Zugereister. Sagt man. Wurde uns jedenfalls mitgeteilt.
//"Will man sie mit der Weißwurst vergleichen,
die kann der Bratwurst das Wasser nicht reichen.
In Rostock, in Bremen, Berlin oder Bonn
haben sie gar keine Ahnung davon.
Bratwurst hin und Bratwurst her -
die Thüringer Bartwurst schmeckt nach mehr!"//
Das "Duo Müller" live auf der Bühne des Thüringer Bratwurstmuseums. Der gemeine Thüringer ist robust und verfällt hier nicht etwa ins Fremdschämen, sondern sitzt am Biertisch, genießt den platten Endreim, klatscht und wiegt den Körper im 4/4-Takt.
Wir sind auf dem Bratwurst-Song-Contest. Nach dem Duo Müller kommt der "Hardrock-Opa", der so hart ist wie eine rohe Thüringer Bratwurst. Diese hängt, da eben roh und nicht gebrüht, schlaff und hellgrau über dem Finger, wenn man sie aus der Schüssel mit Wasser nimmt, in der sie vor dem Braten liegen muß.
Hellmut Seemann: "Sie sehen roh eklig aus, sie sehen kalt eklig aus ..."
Findet so Helmut Seemann, Bratwurstliebhaber und Präsident der Stiftung Weimarer Klassik.
Hellmut Seemann: "... und sie sind eigentlich nur zu einem ganz kurzen Zeitraum zu genießen. Und das ist eben, wenn sie vom Braunen gerade ins Dunkelbraune übergehen und so heiß sind, dass man nicht ungestraft reinbeißen darf, sondern man muss sie so vorsichtig essen: Dann sind sie wunderbar!"
Etwas historischer Geist steht der Bratwurst, denn der Thüringer und auch Zugereiste wie Helmut Seemann essen die Rostbratwurst mindestens seit 1404, als sie das erste Mal urkundlich erwähnt wurde. Im Jungfrauenkloster zu Arnstadt übrigens.
Ingrid: "Sie hätten gern eine Bratwurst? Sehr gern! Einen kleinen Moment bitte!"
An den Grill gehört ein Mann. Auch und gerade in Thüringen. Diese Regel steht nicht in der Landesverfassung, gilt aber dennoch. Ingrid und Jenny stehen trotzdem an ihrem Grill in einer touristischen Einflugschneise in die Erfurter Altstadt. Wer, wenn nicht eine Frau, weiß, wie Männer am Grill sind?
Jenny: "... Verhältnismäßig ruhig, wenn sie alleine sind. Ansonsten - das können sie sich ja selber ausmalen!"
Ingrid: "Eigentlich haben sie schon Respekt davor, wenn eine Frau am Grill steht! Muss ich ganz ehrlich sagen! Das habe ich schon oft erlebt, dass sie erst große Augen machen, paar blöde Sprüche, aber dann doch überrascht sind, dass es genauso schmeckt, als wenn es ein Mann grillen würde. Mal ein dummer Spruch, aber da guckt man drüber hinweg. Ist alles schön!"
Und mal ehrlich: Jungen, charmanten Frauen wie Jenny und Ingrid stellen sich ja beim Grillen die gleichen existenziellen Fragen wie dem schmerbäuchigen Manne: Eine der wichtigsten: Senf oder Ketchup?
Ingrid: "Senf/ Ketchup?"
Kunde: "Mostrich!"
Ingrid: "Mostrich?"
Kunde: "Kennt sie wieder nicht, was?"
Ingrid: "Doch, kenne ich, ich bin von früher!"
Ingrid: "Die meisten Senf!"
Jenny: "Die Kinder essen es ohne alles!"
Ingrid: "Aber ein echter Thüringer ist die Bratwurst mit Senf!"
Kundin: "Ich möchte drei mal Kartoffelsalat und drei Würste."
Ingrid: "Sehr gern! Ein echter Thüringer ist die Bratwurst mit Senf! Immer, 100%ig! Und dazu gehört auch richtiger Born-Senf!"
Ingrid: "Die sind lecker, die Brötchen, hm!?"
Und wie so oft urteilen Spätbekehrte wie Helmut Seemann auch in dieser Frage apodiktisch.
Hellmut Seemann: "Also komm! Man kann doch keinen Ketchup auf eine Bratwurst machen! Das ist ja ekelhaft!"
Ja. Touristen steigern zwar den Umsatz, drohen aber auch, alte Sitten und Gebräuche nachhaltig zu stören - und bedrohen damit die Thüringer Identität. Der Klassiker jedoch hält sich hartnäckig: Ein Ost-Brötchen, also eines mit Teig und nicht Luft im Inneren, wird längs eingeschnitten, die Bratwurst hineingelegt. Zur großen Kunst gehört es, die 20 cm lange Wurst und das nur halb so lange Brötchen gleichzeitig zu verzehren, ohne sich zu verbrennen oder zu bekleckern. Neuerdings wird an Thüringer Bratwurstständen auch eine Serviette gereicht, wahrscheinlich für die Touristen. Fettige Finger kann man schließlich auch am Brötchen reinigen.
Die Frage, ob man die Würste lieber neben statt über der Holzkohle grillen sollte, weil durch das runtertropfende Fett krebserregende Stoffe entstehen kann, wird jedoch an Thüringer Grills ausdrücklich NICHT diskutiert. Hier stirbt man noch mit Würde. Ein praktischer Tip noch für Auswärtige: Die Rauchwolken über einem Grill zeigen grob den Wochentag an: Qualmt es auf dem Markt, ist es ein Wochentag, qualmt es zwischen den Häusern, dann ist Wochenende.
Abtrünnige
"Abtrünnige im Süden" - d i e Formulierung stammt nicht von uns! Ein Thüringer reichte sie uns. Und er fügte frank und frei hinzu: Sonneberg fühlt sich mehr zu Franken hingezogen als zu Thüringen. Wir reagierten erst mit einem ungläubigen, dann mit einem prüfenden Blick und baten unseren Thüringer Korrespondenten um einen klärenden Beitrag.
Christa Schnetter: "A kleines ... a Sammele, a Roggele, a Körnele. I bin ja lieber für das Königsbrot, aber i hob nor a halbes, da lasse mer's lieber. Mei Horscht ißt dass kleine gern! So, und a Bergpfirsisch un a poor Bononen!"
Nicht jeder wird Christa Schnetter bei ihrem Einkauf verstehen; nur soviel ist klar: Sie kauft Brötchen, Pfirsiche und Bananen. Christa Schnetter spricht fränkisch, wohnt aber in Thüringen. Genauso geht es etwa einem Fünftel der Thüringer, die südlich des Thüringer Waldes wohnen, hinter dem Berg, wie es in Erfurt heißt.
Martin Truckenbrodt: "Na ja, das Gebiet ist fränkisch! Man muss nichts anschließen; man muss eigentlich nichts ändern. Das, was man ändern muss, ist eigentlich das Bewusstsein in der Öffentlichkeit."
Martin Truckenbrodt ist Franke, geboren in Bayern, lebt nun in Thüringen. Er ist es also gewohnt, von seiner Landesregierung vereinnahmt zu werden, erst als Bayer, nun als Thüringer. Aber: Martin Truckenbrodt wehrt sich und weiß die Geschichte auf seiner Seite:
Martin Truckenbrodt: "Dass man die Region nicht mehr als fränkisch fühlt oder bezeichnet, das ist ja noch gar nicht so lange her, die Entwicklung! Das war ja vor 50 Jahren noch ungefähr so, dass hier in der Schule gelehrt wurde, dass der Rennsteig die kulturräumliche Grenze zwischen Franken und Thüringen ist. Erst zur Zeit des Kalten Krieges hat sich das quasi verlaufen, die Geschichte."
Und deswegen hat er einen Verein gegründet, die Pro-fränkische Initiative in "Südthüringen". Südthüringen steht in Anführungsstrichen wie früher die DDR in den bundesdeutschen Zeitungen. Denn "Südthüringen" oder "Nordbayern" gibt es für Martin Truckenbrodt nicht.
Martin Truckenbrodt: "Das war ja keine natürliche Entwicklung! Das war einfach eine Geschichte, die Kaiser Napoleon als Besatzer Deutschlands mit veranlaßt hat, mit seinen deutschen Vasallen, die er damals hatte, mit den Leuten, die ihm gut gestanden sind. Das ist eine künstlich gezogene Geschichte einfach. Hat nichts mit Kulturräumen oder gewachsenen Strukturen zu tun."
Und deshalb kämpft Martin Truckenbrodt für ein einiges Franken in den Grenzen von 1500. Mit Teilen von Bayern, Thüringen, Hessen und einem Zipfel Sachsen. Vorerst mit der Klarinette in der Hand.
Erst mal geht es ihm darum, den Süd-Thüringern zu erklären, dass sie eigentlich Nord-Franken sind.
Martin Truckenbrodt: "Dass man das wieder im Bewusstsein klarstellt, das ist das erste, worum es eigentlich geht. Klar träumen wir auch irgendwo vom Bundesland Franken, aber das ist was, was man mittelfristig oder langfristig betrachten muss, aber das ist der zweite Schritt."
Also eine Situation ähnlich wie die der Kurden oder Basken ...?
Martin Truckenbrodt: "Ja, irgendwo kann man die Situation vielleicht sogar vergleichen, ja. Wir nehmen uns nicht die IRA oder die ETA zum Vorbild, um Gottes Willen! Wir haben auch noch keinen paramilitärischen Arm, nee."
Noch also ist die Thüringer Landesregierung sicher vor Anschlägen von den sogenannten "Südthüringern". Ihren Bemühungen aber, die Menschen mit dem gänzlich unthüringischen Dialekt ...
... zu "thüringisieren" wirft sich der Verein mit ganzer Kraft entgegen. Es gibt schließlich nicht nur historische Argumente.
Martin Truckenbrodt: "Na, wir haben hier in unseren original einheimischen Bratwürsten, haben wir keinen Kümmel drin! Das ist schon was anderes! Bei uns ist dann mehr Knoblauch drin. Das ist der Kümmel-Äquator, der Rennsteig!"
Christa Schnetter und die Bäckersfrau aber lassen sich nicht beirren, auch nicht von der Bratwurst:
Christa Schnetter: "Eigentlich zu Thüringen! Also, zu Franken, Steffi ... Nee! Wir waren's, sind's und bleiben's sicherlich, so lange wir noch leben."
Bäckersfrau: "Thüringen ist und bleibt unsere Heimat! Ob nun da irgendwann mal die Grenz' war oder nicht - das ist Wurscht!"
Landstreit
Thüringen, das Land der Mitte, also auch des geographischen Mittelpunktes der Republik. Es gibt zwar nur einen geographischen Mittelpunkt, aber mehrere Orte beanspruchen ihn. Das hat was mit den verschiedenen Vermessungsmethoden zu tun, die wir hier nicht weiter vertiefen wollen. Aber einen Blick auf einen geographischen Mittelpunkt wollen wir doch werfen.
Wir nähern uns dem Örtchen mit dem schönen Namen Landstreit - dem südlichsten Ziel unserer Reise zum Mittelpunkt Deutschlands. Unsere Recherche im nur wenige Kilometer entfernten Eisenach, wo denn nun der Ort genau liege, verlief - sagen wir mal - etwas ergebnisarm.
Das hängt möglicherweise mit der Berechnungsmethode des Erfurter Akademikers Dr. Happ zusammen, der zwar den Rechner mit 90.000 Daten fütterte, aber nicht alle deutschen Inseln mit in sein Kalkül einbezog. Usedom und Rügen akzeptierte er noch, Helgoland indes hatte keine Chance mehr.
10° 20' östlicher Länge und 51° nördlicher Breite also, das entspricht der Ortslage von Landstreit, zirka 10 km Luftlinie von der Wartburg entfernt. Die steht markant in der Landschaft, aber den Mittelpunkt hätten wir beinahe überfahren.
4 Häuser, fünf Familien, 497 Schafe - Landstreit.
Kalkschotter wird auf den Feldweg geschippt, der in eine Ansiedlung führt, in der die meisten Künzel heißen - aber Mittelpunkt Deutschlands?
"Das ist doch dummes Zeug, was die da erzählen. Nichts ist das, gar nichts ist das."
Alfred Künzel, 72, schleppt gerade 50 Kilo schwere Holzstämme in die Scheune.
"Vollkommener Quatsch. Schon ein paar Jahre her, da haben sie Luftaufnahmen gemacht, alles totaler Quatsch."
Ein alter Farmel-Diesel. 6 kmh steht drauf, fährt aber schneller, sagt Künzel, aber mit dem 6-kmh-Schild braucht der nicht zugelassen werden. Und außerdem: Alles sei sinnlos, nach der Wende habe man den Leuten Rotz um die Backen geschmiert, jetzt sei sein Sohn pleite. Habe ja nicht auf ihn gehört, aber sich Selbständig gemacht. Und überhaupt ...
"Was meinen sie, was die hier schon gesponnen haben. Wollten hier ein großes Hotel bauen. Kamen oben aus Freiberg, ist das in Sachsen?"
Diese und andere Geschichten bekommen wir am Mittelpunkt Deutschlands zu hören, Geschichten aus der Provinz.
Landstreit. Wer auf den Schafberg steigt, der kann - wie jetzt in der Dunkelheit - die erleuchtete Wartburg sehen. Also stiefelt Alfred Künzel mit uns hoch, lässt den Blick in die Ferne schweifen.
"Nach Mallorca oder was? Ich habe hier auch Mallorca, brauche ich nicht in Urlaub fahren. Das sind Ansichtssachen."