Thriller "Die Vierhändige"

"Nicht erklären, sondern emotional spürbar machen"

Eine Szene aus dem Film "Die Vierhändige"
Sophie (Frida-Lovisa Hamann) und (links) ihre Schwester Jessica (Friederike Becht) © Camino Filmverleih
Regisseur Oliver Kienle im Gespräch mit Patrick Wellinski · 02.12.2017
Sieben Jahre nach seinem Debutfilm "Bis aufs Blut" kommt Oliver Kienles zweiter Spielfilm in die Kinos. Der Thriller "Die Vierhändige" erzählt die Geschichte von zwei traumatisierten Schwestern. Kienle will den Zuschauer damit nicht intellektuell ansprechen, sondern physisch.
Patrick Wellinski: Zwei Schwestern, Sophie und Jessica, werden als Kinder Zeugen eines Gewaltverbrechens. Viele Jahre später kommen die festgenommenen Täter wieder frei, und das löst bei den traumatisierten Schwestern ganz unterschiedliche Reaktionen aus. Während Sophie sich ein neues Leben als Konzertpianistin aufbauen möchte, entwickelt Jessica ihrer jüngeren Schwester gegenüber einen recht ungesunden Beschützerinstinkt.
Der Thriller "Die Vierhändige" läuft seit Donnerstag in den Kinos und ist Oliver Kienles zweiter Spielfilm nach seinem vielfach ausgezeichneten Debüt "Bis aufs Blut. Brüder auf Bewährung". Seit diesem Debut sind jetzt aber schon sieben Jahre vergangen, und deshalb wollte ich von Oliver Kienle, den ich vor der Sendung sprechen konnte, wissen, ob er denn jetzt so lange nach einer Idee gesucht hat oder ob er diese sieben Jahre dafür investierte, um am Drehbuch für "Die Vierhändige" zu arbeiten.
Oliver Kienle: Nein, die Idee zu der "Vierhändigen" kam relativ früh, also relativ bald nach "Bis aufs Blut". Damals war es so, wir haben ja unheimlich viele Preise gewonnen. Ich kam da gerade von der Filmhochschule, es war quasi meine Diplomarbeit, war mein erster Kinofilm, und wir haben da, ich glaube, 16 Preise gewonnen. Diese ganzen wichtigen Nachwuchspreise, und da bist du natürlich erst mal total verwirrt. Und alle kommen auf dich zu, und alle wollen mit dir arbeiten, und alle wollen mit dir dann in der Regel einen "Tatort" oder eine Romantic Comedy machen.
Und das ist schon ein bisschen verwirrend, weil man so ein bisschen – na ja, der geschützte Raum der Filmhochschule ist dann plötzlich weg, und man ist auf dem Markt und man überlegt, was macht man jetzt. Und man ist noch hin- und hergerissen zwischen Idealismus und "Ich muss irgendwie Karriere machen oder Geld verdienen" und so. Man muss sich da auch noch ein bisschen finden und so ein bisschen für sich selbst herausfinden, was man macht.
Szene aus dem Film "Die Vierhändige" von Oliver Kienle
Sophie (Frida-Lovisa Hamann) und Martin (Christoph Letkowski) lernen sich kennen.© Camino Filmverleih
Mit der "Vierhändigen" habe ich relativ bald angefangen, aber ich wusste noch nicht, ob das wirklich ein Projekt wird, also ob da wirklich mal ein Film draus wird. Ich hab mehrere Stoffe geschrieben, und ich hab ja dann auch noch einen "Tatort" gedreht zwei Jahre später. Ich habe einen Stoff angefangen, aus dem nichts wurde. Dann habe ich 2014 an der Serie "Bad Banks" angefangen, die jetzt nächstes Jahr ins Fernsehen kommt. Also, ich habe viele Sachen parallel gemacht, aber man kann schon sagen, dass ich insgesamt, sagen wir mal, durch die Unsicherheit auch, ob das Projekt gemacht wird – ich formuliere es mal positiv – die Chance hatte, vier Jahre lang an diesem Drehbuch zu arbeiten und es zu dem zu machen, was es jetzt ist. Und wir haben insgesamt zwei Jahre gecastet für den Film, weil einmal die Finanzierung geplatzt ist, und dann wurde eine Darstellerin schwanger. Es hat sich ein bisschen gezogen, aber ich fand – es ist gut. Es ist dadurch, wenn so ein Drehbuch einfach eine Weile liegt auch und immer wieder angefasst – das hat dem, glaube ich, gut getan, aber – ja, wir haben vier Jahre dran gearbeitet.

Zwei Schwestern als Yin und Yang einer traumatisierten Seele

Wellinski: Und was war denn da der Grundimpuls für die Geschichte der "Vierhändigen"?
Kienle: Es ist wirklich immer so beim Schreiben, ich schreibe sehr viel und sehr gern, aber es ist bei jeder Entwicklung immer dasselbe. Man fängt an, einen Stoff zu schreiben, und weiß eigentlich noch gar nicht, warum. Man hat irgendwelche Ideen im Kopf, und man findet es sehr reizvoll, ein bestimmtes Genre zu machen, eine bestimmte Geschichte zu erzählen, weiß noch nicht genau, wie soll die enden, wo geht das hin. Man hat einfach so Inspirationen und will das unbedingt machen. Dann fängt man an zu schreiben, und dann ist es erst mal komplizierter als man denkt, und es ist erst mal schwieriger, als es so das erste Startgefühl war. Und dann irgendwann kommt der Punkt, und ich glaube, das ist die wichtigste Phase bei jedem Drehbuch, das man schreibt, es kommt irgendwann der Punkt, wo man herausfinden muss, was hat der Stoff wirklich mit mir zu tun. Und entweder man findet den, also man findet diesen Kern, dann wird es gut oder man findet ihn nicht, und das Drehbuch wird nicht verfilmt.
Das ist so meine Theorie. Oder es wird verfilmt, und es wird kein guter Film, weil es immer so ist, erst, wenn man wirklich begriffen hat, was man da eigentlich erzählen will, worum es einem im Kern geht, dann hat man das nötige Selbstbewusstsein als Erzähler. Dann weiß man plötzlich, so und so muss der Film sein, so muss er enden, das ist die Aussage, die stehen bleiben muss, das ist die emotionale oder intellektuelle Erkenntnis, die ich in dem Film am Ende drin haben will. Und ich hab das bei mir gefunden, ich hab gemerkt, warum und dass für mich das Thema Gewalttrauma im Kern der Geschichte steht und dass der ganze Film quasi das Thema behandelt, wie man es schafft, ein sehr schweres Trauma...zu überwinden, ist zu viel verraten. Aber der Film an sich, die Geschichte dieser beiden Schwestern, steht für mich so ein bisschen für das Yin und Yang einer zerbrochenen Seele nach einem schweren Trauma.

Wellinski: Sie haben Traumabewältigung erwähnt oder das Verhalten nach einer Gewalterfahrung. Das steht ja hier im Zentrum. Diese beiden Schwestern erleben etwas, noch als kleine Kinder, und viele Jahre später sucht sie dieses Erlebnis oder diese Gewalterfahrung auf eine gewisse Art und Weise wieder heim. Die eine Schwester entwickelt ein, man müsste schon formulieren, ungesunden Beschützerinstinkt der jüngeren Schwester gegenüber. Das ist jetzt interessant, dass das ja zwischen zwei Schwestern oder zwei Geschwistern stattfindet. Warum war Ihnen das wichtig, dass das letztendlich auch zwei Schwestern oder zwei Geschwister sind?
Kienle: Ja, ich glaube, weil man dadurch so eine Unzertrennbarkeit hinbekommt, die wir ja im Film dann noch, wir wollen ja nicht zu viel verraten, noch potenzieren. Dass dieses Duell quasi irgendwann im eigenen Körper stattfindet. Man kann das nicht trennen, und so ist es auch mit einem Trauma. Was mir wichtig war bei dem Film, dass man auch ein Gefühl dafür bekommt, also wirklich auf der Metaebene, was da eigentlich darunterliegt. Dass du das nicht herausbekommst. In der Therapie würde man versuchen, nicht diese beiden Seiten, irgendwie sich für eine zu entscheiden, vor allem natürlich für die hellere, und sagen, okay, deine dunkle Seite, die musst du verstecken oder verdrängen oder sonst was. Das geht nicht. Du musst beide Seiten mit dem Trauma konfrontieren, und das passiert in der Geschichte, damit es irgendwie wieder zu einer Art Verschmelzung dieser beiden Seiten kommt. Das ist auch der Heilungs-, sagen wir mal der Therapieansatz bei traumatischen Erfahrungen, dass man das alles zulässt.

Vierhändiges Klavierspiel erfordert viel Harmonie

Wellinski: Der Weg aus dem Trauma, gerade für Sophie, der wird ja relativ stark vorgegeben. Sie ist eine talentierte Klavierspielerin, und sie kann natürlich mit dieser Karriere oder diesem Beruf durchaus vielleicht rauskommen. Es gibt sogar die Möglichkeit einer Liebe für sie. Warum gerade Klavier? Sie haben es jetzt schon so ein bisschen erwähnt, und trotzdem, weil es ja auch im Titel steckt, warum ist Sophie jetzt gerade eine Klavierspielerin geworden?
Kienle: Weil man bei keinem anderen Instrument, das man zusammen spielt, man so gut zusammen harmonisch funktionieren muss, damit das funktioniert. Das ist ja nicht nur eine Taktfrage, sondern auch wirklich eine emotionale Frage. Sich zusammen ans Klavier zu setzen und vierhändig zu spielen, da muss man wahnsinnig gut miteinander funktionieren. Und das ist was, was ja, wenn der Film beginnt, in der Geschichte überhaupt nicht funktioniert. Und die Frage ist, kann das jemals wieder funktionieren? Aber für mich war das genau das richtige Bild, wohin man diese Seele wieder führen muss, also das, was ich auch vorher meinte mit diesem Yin und Yang – setzen sich ans Klavier, und erst, wenn sie wieder in der Lage sind, gemeinsam zu spielen und wieder in Einklang sich zu bringen, dass dann eine Chance, eine Hoffnung auf eine Art Heilung passieren kann. Das war einfach für mich immer ein sehr starkes und stimmiges Bild.
Szene aus dem Film "Die Vierhändige" von Oliver Kienle
Die zwei Schwestern Jessica (links, Friederike Becht) und Sophie (Frida-Lovisa Hamann)© Camino Filmverleih
Wellinski: Jetzt kann man diesen Plot durchaus als – also wenn wir mal über Tonlagen sprechen, da wir gerade im Bild des Klaviers sind – durchaus als sagen wir mal didaktisches Drama erzählen. Da geht es nämlich um etwas, um Traumabewältigung, was bedeutet das für eine Figur? Sie wählen aber den Kinoweg, den kunstvollen Kinoweg. Sie erzählen das übers Genre. Jetzt kann man sich natürlich streiten, was für ein konkretes Genre – in meinen Augen ist es ein Paranoia-Thriller, etwas, was man in Deutschland ehrlich gesagt so gut wie gar nicht kennt. Dafür sind andere Spezialisten da, wie Roman Polanski zum Beispiel. Warum war es Ihnen wichtig, gerade dieses Kostüm für Ihren Stoff zu wählen, dieses Kostüm des Genres?

"Physisches Kino gibt es in Deutschland nicht wirklich"

Kienle: Für mich war das immer die Sprache des Kinos. Ich kenne das nicht wirklich anders. Ich glaube, es ist wahrscheinlich in Deutschland eine große Generationsfrage. Für mich war Kino immer ein Ort der Physis und der Emotionen und kein intellektueller Ort. Ich bin kein Fan vom intellektuellen Kino. Es gibt Filme, die, finde ich, durchaus funktionieren. Haneke, finde ich, macht großes intellektuelles Kino. Wenn ich "Das Weiße Band" sehe, da denke ich erst mal eine halbe Stunde drüber nach, warum jetzt Autorität und sexuelle Unterdrückung zu Faschismus führen und so. Das ist gut, also es funktioniert, aber ich bin ein Fan von physischem und emotionalem Kino, weil ich es noch stärker finde, wenn ich die Erfahrung und die Erkenntnis eines Films, einer Geschichte, auf einer emotionalen Ebene erfahren kann und nicht auf einer intellektuellen. Das hat sich für mich immer stärker angefühlt.
Aber faktisch gibt es das in Deutschland nicht wirklich, das physische Kino. Das einzige physische Kino, was es gibt in Deutschland, ist die Komödie. Das ist auch physisch, weil da müssen Sie lachen, das ist auch toll und so. Aber das Genre allgemein und auch international, das universelle, überall funktionierende Genreerzählen, ist was sehr Starkes, und ich finde es total schade, dass es in Deutschland wenig bis gar nicht gemacht wird, und dass Leute auch, das merkst du ja beim Machen des Films und aber dann auch bei der Veröffentlichung, unheimlich Angst davor haben.
Ich weiß nicht, wahrscheinlich, weil der Film aber auch natürlich um Gewalt und Trauma geht und so und viele Leute überrascht sind, dass der Film auch wirklich das konsequent dann tut, was er da behauptet. Irgendwie sind, das haben wir bei den Festivals gemerkt und jetzt bei den Previews und so weiter, ist man aus Deutschland heraus gewohnt, dass es am Ende dann doch wesentlich seichter vorgeht und irgendwann diese Erklärerperspektive hat, also dieses mehr intellektuelle, und ich den Erzähler spüre, der mir versucht, irgendwas zu erklären.
Szene aus dem Film "Die Vierhändige" von Oliver Kienle
Sophie (Frida-Lovisa Hamann) am Klavier © Camino Filmverleih
Die Leute sind überrascht bei unserem Film, dass es physisch und emotional bleibt und wirklich die Erkenntnis woanders her kommt. Das ist man in Deutschland nicht gewohnt, keine Ahnung, warum das so ist. Wir haben eben eine bestimmte Art von Kino in Deutschland. Ich war da nie Fan von, und das sind auch nicht die Filme, mit denen ich aufgewachsen bin. Und deswegen war das so die Entscheidung, das so zu machen. Und ich bin wirklich erleichtert und froh und auch dankbar, wie toll jetzt der Film aufgenommen wird. Also, dass man – weil wir mussten da viel kämpfen dafür. Das ist nicht nur jetzt, das Klischee wäre ja, okay, die Redaktion wollte das anders und so. Das ist in dem Fall gar nicht so.
Aber alle in Deutschland haben unheimlich Angst davor, aber wenn es dann mal funktioniert, dann funktioniert es ja auch, und die Leute nehmen es dankbar an. Das spüren wir jetzt gerade, dass es dankbar angenommen wird. Mal sehen, wie es funktioniert im Kino, aber bei Festivals auch. Ich meine, wir sind in unheimlich vielen Festivals, ich glaube, zehn Festivals mittlerweile auch in verschiedenen Ländern. In Chicago waren wir, in Tallin. Also selbst da ist ein Hunger nach solchen Filmen, die aufhören, uns alles zu erklären, sondern es emotional spürbar und erfahrbar zu machen.
Wellinski: "Die Vierhändige" ist in den Kinos. Regisseur Oliver Kienle war unser Gast. Vielen Dank!
Kienle: Danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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