Thorsten Nagelschmidt: "Arbeit"

Das Haifischbecken namens Leben

05:46 Minuten
Das Buchcove von Thorsten Nagelschmidts "Arbeit"
"Arbeit" - ein großes Berlin-Kaleidoskop! © Deutschlandradio / Fischer Verlag
Von Elke Schlinsog  · 07.05.2020
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Thorsten Nagelschmidt setzt mit "Arbeit" den Strauchelnden, Unsichtbaren ein Denkmal: dem Taxifahrer, der Flaschensammlerin, der Sanitäterin. Sein Roman einer Berliner Nacht erzählt von Menschen, die träumen und immer wieder an ihren Träumen scheitern.
In diesen Nachtstrudel wird man unmittelbar hineingezogen. Sie alle sind "Kinder des Mondes", heißt es im Roman, sie alle lieben die Nacht, denn nachts sind alle so sehr mit sich selbst beschäftigt, mit ihrem Rausch und ihrer Selbstverwirklichung. Thorsten Nagelschmidt interessieren aber nicht die vielen, die ins Licht, auf die glitzernde Bühne der Stadt wollen. Seine Helden bleiben in der Peripherie, im Schatten.
Der Taxifahrer Bederitzky, der als verkappter Musiker den Fahrgästen sein eigenes Demotape vorspielt, der eigensinnige Hostelbetreiber Sheriff, ein Rocker in Westernstiefeln, bereit, die Welt zu retten. Oder die Notfallsanitäterin Tanja, die nach ihrer 12-Stunden-Schicht in Leder und Schnallen schlüpft und Ablenkung als "Stiefelbiest24" sucht. Sie alle jagen durch die Nacht, auch die Flaschensammlerin, die "Späti"-Verkäuferin und der Drogendealer mit Zahnschmerzen. Ein verrückter, mal heiterer, mal trauriger Nachtreigen, der mehr und mehr leuchtet, von Episode zu Episode. Dass Thorsten Nagelschmidt ein Faible für die Unsichtbaren, die Gestrauchelten, die Schwankenden hat, merkt man schon auf ersten Seiten, mit seinem Nachtwerk "Arbeit" setzt er ihnen ein Denkmal.

Der Rettungswagen brettert vorbei

Im Sündenbabel der Nacht begegnen sie sich, ohne dass sie voneinander wissen. Geschickt verknüpft Nagelschmidt ihre Schicksale miteinander, mal mehr, mal weniger offensichtlich, manchmal nur andeutungsweise. In schnellen Schnitten springt man beim Lesen zwischen den Figuren hin und her, begegnet dem strauchelnden Bootsflüchtling aus Guinea wieder bei der Flaschensammlerin, dann brettert der Rettungswagen mit Blaulicht und Sirene am Hostel vorbei, später steigen zwei Drogenjunkies in Bederitzkys Taxi. Diesen temporeichen Episodenroman hat man bereits beim Lesen buchstäblich als Film vor Augen, die großen Kinovorlagen, wie das Drogendrama "Trainspotting" oder den Taxi-Episodenfilm "Night on Earth" gleich mit.
Der Berliner Autor und Frontmann der Punk-Band "Muff Potter" kommt seinen Helden sehr nah, schlüpft buchstäblich in ihre Haut und Sprache, findet für jede seiner Figuren einen eigenen Duktus und Habitus. Mit vielen Menschen hat Nagelschmidt gesprochen, hat sich ihre Geschichten erzählen lassen, hat undercover in einem Hostel gearbeitet, an Clubtüren gestanden oder auch mal 50 Euro für die Geschichte des Bootsflüchtling aus Guinea hingelegt.

Die BVG beendet den Spuk

Er lässt sie träumen und immer wieder an ihren Träumen scheitern. Wie den sympathischen Pechvogel, den Taxifahrer Bederitzky, den wir mehrfach begleiten, der sich nicht nur seine Beziehung, sondern auch seine Sonderfahrt nach Halle durch die Lappen gehen lässt. Man möchte sich beim Lesen - mit ihm gemeinsam - mit der flachen Hand auf die Stirn hauen: "Zu dumm zum Kassieren! Als hättest du nichts gelernt in diesem Haifischbecken namens Leben!"
Bevor die BVG-Müllabfuhr den nächtlichen Spuk beendet und alle wegspült, blitzen die Figuren noch einmal kurz auf: die Flaschensammlerin mit dem Lastenrad rollt auf dem Gehweg an einem Taxifahrer vorbei, der verzweifelt an die Tür der "Späti"-Verkäuferin trommelt, die Geschichten gehen ja weiter, Thorsten Nagelschmidt hat für uns nur einmal zwölf Nachtstunden lang draufgehalten!
Ein großes Berlin-Kaleidoskop, dessen Lichter und Schatten noch lange leuchten.

Thorsten Nagelschmidt: "Arbeit"
S. Fischer Verlag, Frankfurt 2020
336 Seiten, 22 Euro

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