Thomas Hettche: "Herzfaden"

Die Unschuld der Marionetten

06:58 Minuten
"Herzfaden" von Thomas Hettche
Viel ist schon über die Mentalität der frühen Bundesrepublik geschrieben, aber selten so reflektiert wie in diesem Roman, meint unsere Kritikerin. © Deutschlandradio / Kiepenheuer & Witsch
Von Wiebke Porombka  · 11.09.2020
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Thomas Hettches im doppelten Sinne fantastischer Roman "Herzfaden" ist zu Recht für den deutschen Buchpreis nominiert. Die Geschichte der Augsburger Puppenkiste wird zu einer Erzählung über das Fortwirken nationalsozialistischer Vergangenheit.
Über Traumata, geleugnete oder verdrängte Schuld oder die mehr oder mitunter subkutanen oder nicht sanktionierten Kontinuitäten nationalsozialistischer Gesinnung – über die Mentalität der frühen Bundesrepublik mithin ist viel geschrieben worden. Wohl selten aber so vielschichtig und reflektiert und im besten Sinne so wundersam, so ernst und gleichzeitig so sprühend albern wie Thomas Hettche dies in seinem Roman "Der Herzfaden" vermag. Fantastisch in doppeltem Wortsinn.
Der Roman beginnt – man kann an "Alice im Wunderland" oder "Die unendliche Geschichte" denken – mit einer Holztür, durch die ein Mädchen nach einer Aufführung der Augsburger Puppenkiste schlüpft, die sie unter Tränen der Empörung verlassen hat, weil sie sich zu alt für solche Veranstaltungen meint. Im Licht des Iphones tastet sie sich eine Treppe nach oben und stößt, mittlerweile selbst auf Puppengröße geschrumpft, auf dem Dachboden auf all jene Marionetten der Augsburger Puppenkiste, mit denen Generationen Westdeutscher sozialisiert worden sind: Jim Knopf, das Urmel, Prinzessin LiSi oder Kalle Wirsch, die munter herumlaufen und plaudern können.
Dazu, in Menschengröße, eine rauchende Dame in cremeweißem Kleid: Hatü, oder eigentlich: Hannelore Oehmichen, spätere Marshall. Eine historische Figur: Die Tochter des Erfinders des legendären Puppentheaters, die dieses gemeinsam mit ihrem Vater, Walter Oehmichen, leitete und dessen wichtigste Marionettenbauerin war.

Deportation von Juden

Ein Dachboden als fantastisches Zwischenreich, das nach einem Kinderbuchsetting klingt? Absolut. Und genau das ist eines der – durchaus mutigen – Prinzipien Hettches. Er behauptet oder reflektiert nicht nur, sondern vollzieht ästhetisch nach. Die Überlagerung von Vergangenheit und Gegenwart einerseits.

Andererseits das Bestreben Oehmichens, neue, von der Welt der Erwachsenen – der Väter – abgelöste Geschichten zu erzählen, unbelastete Geschichten vermeintlich für Kinder, die aber auch zu Erwachsenen sprechen und das eben mit Puppen, die ihrerseits geschichtslos sind. Kein Zufall, dass viele der Augsburger Figuren keine Familie haben. Oder, wie das Urmel seufzend erklärt: "‘Urmel hat teinen Vater. Ist aus einem Eis geslüpft. Sade.‘"
Und so wechselt das Setting auf dem Dachboden, in roter Schrift und episches Präteritum gesetzt – mit Passagen in blauer Schrift ab, in denen im Präsens in Zweiten Weltkrieg und Nachkriegsjahre geblendet wird und Hettche die Entstehungsgeschichte der Augsburger Puppenkiste erzählt, die aber natürlich Teil ist einer größeren Geschichte:
Der Geschichte der Deportation der Juden – die junge Hatü beobachtet die Lastwagen, auf denen sie dicht gedrängt sitzen, oder besucht das Haus in Augsburg, in denen sich jene jüdischen Bewohner zusammenfinden, denen die Flucht nicht mehr gelungen ist. Genauso wird von Bombennächten erzählt oder vom Vater, Schauspieler und Oberspielleiter in Augsburg, kein Nazi, aber auch kein offener Widerständler, der aus dem Krieg zurückkommt und eine erste Marionette dabeihat.

Vom Ressentiment vergiftet

Man kann bei der Lektüre dieses Romans all sein ästhetisches und intellektuelles Rüstzeug mitlesen, man Hettches Spiel mit Kleists "Über das Marionettentheater" erkennen, die Frage nach natürlicher Grazie und abwesendem Bewusstsein. Aber man muss diese Bezüge weder kennen noch erkennen. Wie bei einer Puppentheater-Aufführung kann man um Fäden und Spielkreuze wissen, man kann sich aber auch einfach an der Illusion erfreuen. Und dann wird allein eine Szene genügen, um die ganze Abgründigkeit des vergangenen Jahrhunderts zu erfassen.
Es ist jene Szene, in der klar wird, warum Hatü sich vor ihrer ersten selbst gebauten Figur fürchtet, dem Kasperl – eine Schuld, die sie bis auf den Dachboden verfolgt. Als junges Mädchen während der Kinderlandverschickung hat sie ihm, unbewusst, die antisemitischen Stereotype der Nazis ins Gesicht geschnitzt. Selbst wenn man die Ideologie seiner Zeit ablehnt, kann man von dem von ihr verbreiteten Ressentiment vergiftet werden.
Der titelgebende "Herzfaden" sei übrigens, erklärt Walter Oehmichen Hatü und ihrer Schwester, der unsichtbare Faden, der die Marionette mit den Herzen der Zuschauer verbindet. Hettche weiß ihn zu spielen.

Thomas Hettche: "Herzfaden, Roman der Augsburger Puppenkiste"
Mit 27 Zeichnungen von Matthias Beckmann
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020
288 Seiten 24 Euro

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