Thomas de Maizière über 15 Jahre Kanzlerin Merkel

Den Marschallstab im Tornister

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Bundeskanzlerin Angela Merkel vor einem blauen Hintergrund.
Bundeskanzlerin Angela Merkel regiert das Land seit 15 Jahren und will nächstes Jahr aufhören. © Getty Images / Pool / Henning Schacht
Thomas de Maizière im Gespräch mit Ute Welty  · 21.11.2020
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Über die Amtszeit von Angela Merkel spricht ihr Parteifreund und früherer Minister Thomas de Maizière mit großer Sympathie. Ihre Leidenschaft verstecke die Kanzlerin gern. Sie regiere verantwortungsvoll. Den USA sei sie in besonderer Weise verbunden.
Ute Welty: Chef des Kanzleramtes, Bundesinnenminister, Bundesverteidigungsminister und dann wieder Bundesinnenminister – eine lange Zeit hat Thomas de Maizière in herausragenden Positionen den Weg der Kanzlerin begleitet. Am 22. November 2005 wurde Angela Merkel zum ersten Mal vom Bundestag zur Regierungschefin gewählt. Da ist die erste Begegnung zwischen Merkel und de Maizière schon ein bisschen her.

Erste Begegnung

Thomas de Maizière: Ja, das war im März 1990, wenige Tage vor der Volkskammerwahl. Der damalige Vorsitzende des Demokratischen Aufbruchs, Wolfgang Schnur, musste wegen Stasivorwürfen zurücktreten, Angela Merkel war die Pressesprecherin dieser jungen Bürgerbewegung, Schrägstrich Partei. Ich war Pressesprecher der Westberliner CDU. Deswegen haben wir dann am selben Tag, ohne uns vorher gekannt zu haben, eine Pressekonferenz organisiert, um der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass Herr Schnur zurückgetreten ist.
Welty: Ist die erste Begegnung auch die wichtigste?
de Maizière: Nein, das war voller Stress und organisatorischer Dramatik. Kennengelernt haben wir uns da nicht. Sie machte einen guten Eindruck, aber dass sie, wenn man so sagt, den Marschallstab im Tornister hatte, konnte ich damals nicht erkennen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wird am 22.11.2005 im Deutschen Bundestag in Berlin durch Bundestagspräsident Norbert Lammert vereidigt
Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wurde vor 15 Jahren im Deutschen Bundestag vereidigt. © picture-alliance / Sven Simon
Welty: Soziologe Max Weber beschreibt drei Eigenschaften für eine herausragende Persönlichkeit in der Politik: Leidenschaft für die Sache, Verantwortungsgefühl und distanziertes Augenmaß. Was davon trifft auf Angela Merkel zu?
de Maizière: Alles drei. Die Leidenschaft versteckt sie manchmal ein bisschen, sie zeigt nicht gerne Emotionen, aber sie handelt sehr verantwortungsbewusst. Sie hat auch eine Distanz zu den Dingen, das muss man haben, nur mit Betroffenheit kann man ein Land nicht regieren, aber sie interessiert sich für die Dinge.
Das klingt ein bisschen eigenartig, aber als ich Chef des Bundeskanzleramts war, hatten wir mal ein Treffen mit einem großen Wirtschaftsführer. Der sagte mir beim Rausgehen, die Frau interessiert sich wirklich für die Sache. Da habe ich gesagt: Wundert Sie das? Da sagt er, ja, das war bei den Vorgängern oft nicht der Fall.

Humor und Empathie

Welty: Welche vierte Eigenschaft ist denn typisch für die Kanzlerin?
de Maizière: Es geht hier nicht um Eigenschaften der Person. Angela Merkel ist zum Beispiel ziemlich humorvoll, was sie auch an sich öffentlich nicht gerne zeigt. Sie hat auch eine Empathie, das ist auch ein Stück ihres Geheimnisses, wie sie gerade auch mit starken Männern umgehen kann. Sie versetzt sich in die Lage von ihnen und studiert dann auch vorher sehr gründlich, was sie gemacht, gesagt, getan haben, so etwa vor der ersten Begegnung mit Donald Trump. Das ist auch eine Eigenschaft, aber das sind jetzt nicht Eigenschaften, die Max Weber für Politik als Beruf geschildert hat.
Welty: Sie und viele andere in der Politik haben einen juristischen Background, Merkel ist Naturwissenschaftlerin. Denkt und versteht die Naturwissenschaftlerin manchmal schneller als der Jurist?
de Maizière: Das will ich nicht hoffen, aber anders.
Welty: Inwieweit?
de Maizière: Ein Jurist denkt oft in Strukturen, in Organisationen, guckt auf ein Organigramm, wie wir das nennen in der Politik, und analysiert einen Zustand. Eine Physikerin, jedenfalls wie Angela Merkel, denkt sehr in Ursache und Wirkung, also sehr stark, was passiert, wenn ich jetzt dies mache, was ist die Folge; oder wenn ich das unterlasse, was ist dann die Folge. Das ist eine große Fähigkeit, immer in Bewegungen, in Ursache und Wirkung zu denken, das unterscheidet ihren Zugang jedenfalls von meinem.
Welty: Gerade in der Corona-Krise spielt dieser Hintergrund eine große Rolle, wenn die promovierte Physikerin von exponentiellem Wachstum spricht, dann hat das eine Aussagekraft. Trotzdem wächst der Widerstand gegen dieses ständige Mahnen, dieses ständige Appellieren. Wie groß ist das Dilemma, in dem sich deutsche Politik derzeit befindet?
de Maizière: Das Problem ist, das gilt für alle Krisen und das hat auch Angela Merkel etwa in der Finanzkrise mit der Sparergarantie gezeigt. Sie müssen oft ohne eine vollständige Kenntnis des Sachverhaltes eine Entscheidung treffen. Das ist schwer. Hinterher kommen lauter Besserwisser und sagen, aber das hättet ihr bedenken müssen und jenes hättet ihr bedenken müssen, Stichwort Schulschließungen im März.
Angela Merkel versucht aber, soweit wie möglich, gerade bei einem solchen Thema wie einer Pandemie, sich der Sache wissenschaftlich oder kühl oder von der Sache her zu nähern, um soweit wie möglich die Grundlagen für eine dann politische Entscheidung treffen zu können. Das wirkt oft für viele so, als würde sie die Sorgen und Nöte der Menschen nicht genügend im Blick haben. Wenn es um Schließungen geht, dann geht es darum, zu verhindern, dass in zwei bis drei Wochen die Notaufnahmen nicht überlastet sind. Diese Wirkungskette auszuhalten, das macht sie, aber das ist für die Betroffenen natürlich ungleich schwerer.
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Bundesinnenminister Thomas de Maiziere (beide CDU) unterhalten sich im Bundestag.
Über viele Jahre haben Thomas de Maizière und Angela Merkel in der Bundesregierung eng zusammengearbeitet. © picture alliance / dpa / Michael Kappeler
Welty: Angela Merkel hat auch ihrer Partei, der CDU, einiges zugemutet: Aussetzung der Wehrpflicht, Aufnahme von Geflüchteten, Ausstieg aus der Atomkraft. Haben Sie diese Entscheidungen immer sofort nachvollziehen können?
de Maizière: Zunächst will ich mal sagen, nicht alle Entscheidungen hat sie davon alleine getroffen. Die Aussetzung der Wehrpflicht hatte Karl-Theodor zu Guttenberg erfunden, der Parteitag hat es dann beschlossen. Auch im Nachhinein halte ich die Entscheidung für richtig, so wie der Zustand der Wehrpflicht damals war.
Aber ich will auf was anderes hinaus: Viele Jahre haben Journalisten und Beobachter gesagt, Angela Merkel entscheidet nichts, sie sitzt alles aus, sie wartet, bis sich die Dinge entwickeln, dann geht sie in die Richtung, in die sowieso schon alle gehen. Dann stellt sich plötzlich heraus, dass sie bei wichtigen Wegmarken eben doch entscheidet: beim Ausstieg aus der Kernkraft, bei der Sparergarantie in der Finanzkrise, bei der Flüchtlingskrise, jetzt bei Corona, bei anderen Situationen auch. Daran zeigt sich, dass eben wichtige Entscheidungen seltene Entscheidungen sind.
Wenn Sie alles zur Chefsache machen, wenn Sie alles sofort entscheiden, dann wird nicht mehr unterschieden zwischen wichtig und unwichtig. Das macht einen Kanzler aus, dass er die Kraft hat zu überlegen, was jetzt dran ist, und das dann auch zu entscheiden. Dass dann nicht immer alle einverstanden sind, das liegt an der Natur des Wortes Entscheidung, weil man das eine vom anderen unterscheidet.
Was ich nun bei der Kernkraft oder bei allem – bei der Flüchtlingskrise war es anders –, aber der Wehrpflicht und so feststelle, dass in der Phase der Entscheidung viele, die eigentlich dagegen waren, nicht mutig genug waren zu widersprechen, um hinterher dann auch hinterm Vorhang zu sagen, das war übereilt und überstürzt.

USA-Reise als Traum der Kanzlerin

Welty: Haben Sie eine Idee davon, was Angela Merkel tut, wenn sie nicht mehr Kanzlerin ist?
de Maizière: Nein, nicht wirklich. Ich glaube, sie freut sich darauf. Was sie früher immer mal gesagt hat – ich weiß nicht, ob sie das jetzt noch kann –, sie würde sehr gerne mal mit ihrem Mann unerkannt zwei bis drei Wochen mit dem Auto durch Amerika fahren, weil das ist immer ein Land ihrer Sehnsüchte gewesen, auch zu DDR-Zeiten. Es ist eine sehr große innere Bindung auch zu diesem Land und zu der Entscheidung der Amerikaner bei der deutschen Einheit.
Das wäre sicher ein Traum von ihr, ob sie es macht, ob sie es in ihrer Funktion machen kann, ich weiß es nicht. Ich würde mir wünschen, dass sie einfach von Ihnen, von uns allen mal so lange in Ruhe gelassen wird, wie sie das möchte.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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