Thomas Biebricher: "Geistig-moralische Wende"

Über die Erschöpfung des Konservatismus

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Cover des Sachbuchs "Geistig-moralische Wende" Thomas Biebricher.
In seinem Buch "Geistig-moralische Wende" beleuchtet Thomas Biebricher die Krise des Konservatismus in Deutschland. © Matthes Seitz / dpa / Arved Gintenreiter
Von Jens Balzer · 25.02.2019
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Der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher sieht den deutschen Konservatismus in der Krise – und das schon mindestens seit der Ära Helmut Kohls. Weswegen, erläutert er in seinem unterhaltsam geschriebenen Buch "Geistig-moralische Wende".
Der deutsche Konservatismus hat sich erschöpft: Diese Diagnose findet man nicht nur bei Rechtspopulisten, die auf den Platz der Volksparteien CDU und CSU drängen, sondern auch in diesen Parteien selbst, deren Politiker sich ihres weltanschaulichen Fundaments nicht mehr so sicher zu sein scheinen. So forderte der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, nach den letzten Wahlen eine "Konservative Revolution".
Aber warum? Denn abgesehen von den unguten historischen Konnotationen dieses Begriffes: Mit einer gerade mal siebenjährigen Pause haben CDU und CSU seit 1982 das Land regiert. Wenn sie jetzt nach einer "Revolution" rufen, dann ist darin ja auch das Eingeständnis enthalten, dass es ihnen Jahrzehnte lang nicht geglückt ist, die Gesellschaft nach ihren Vorstellungen zu prägen.
Wie konnte es dazu kommen? Das ist die Frage, die sich der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher in seinem Buch "Geistig-moralische Wende" stellt. Er beantwortet sie auf dreierlei Weise: in begrifflich-systematischer, ideengeschichtlicher und parteipolitisch-historischer Hinsicht.

Der Selbstwiderspruch des Konservatismus

Schon im Begriff des Konservatismus, so erläutert er im Rückgriff auf dessen Erfinder, den britischen Philosophen und Politiker Edmund Burke (1727 – 1797), ist ein fundamentaler Selbstwiderspruch eingepflanzt: Er versteht sich gleichermaßen als gestaltende und als bewahrende Kraft. Aber das, was er bewahren möchte, ist ja immer schon das, was vergeht. Darum kann der Konservatismus nur als "reaktive" Kraft auftreten, die lediglich zurückzunehmen und zu verlangsamen versucht, was "progressive" Kräfte ihm vorgeben. Oder er macht sich selbst zum Gestalter des Wandels, dann verliert er seinen bewahrenden Kern.
Dieser unauflösbare Selbstwiderspruch führt zu einem stetigen Schwanken zwischen wärmestiftender Melancholie und kalter Technokratie, wie Biebricher in einem Parcours durch den – heute schon wieder weithin vergessenen – Diskurs der konservativen Philosophie in den 1970er- und 1980er-Jahren aufzeigt, etwa bei Helmut Schelsky, Odo Marquard und Arnold Gehlen. Und dieser Selbstwiderspruch nagt auch an der "geistig-moralischen Wende", die Helmut Kohl 1982 ausruft. Denn einerseits will Kohl die libertäre Revolution der 68er ungeschehen machen, andererseits befördert er in seiner Wirtschaftspolitik gerade jene Kräfte des kapitalistischen Systems, die traditionelle Institutionen wie die Familie im "Säurebad" der Modernisierung zersetzen: ein Prozess, der heute lustigerweise nicht seiner Politik, sondern den von ihm bekämpften 68ern angelastet wird.

Kann der Konservatismus sich gegen den Rechtspopulismus verteidigen?

Die heutige Krise des Konservatismus reicht also – so die These von Thomas Biebricher – bis zurück in die Ära Kohl. Demgegenüber war es gerade die heute als Totengräberin der konservativen Politik verfemte Angela Merkel, die im ersten Jahrzehnt ihrer Regierung den zugrundeliegenden Selbstwiderspruch erstmals wieder zu lösen verstand. Mit ihrem "prozedural-konservativen" Stil vermittelte sie das Gefühl, dass sie den Status quo so geräuschlos wie möglich bewahrt – während sie zugleich den Wunsch breiterer Bevölkerungsschichten nach Wandel und Modernisierung erfüllte. Erst mit der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 stieß dieser Stil an seine Grenzen, weil nun nicht mehr nur der Konservatismus erschöpft war, sondern nach zehn Jahren auch die Kanzlerin Merkel.
Ob Annegret Kramp-Karrenbauer die Rolle der geräuschlosen, aber charismatischen Gestalterin auszufüllen vermag, die Merkel zu Beginn ihrer Regierungszeit definierte, ist für Biebricher ebenso offen wie die Frage, ob der Konservatismus sich dauerhaft gegen den konkurrierenden Rechtspopulismus verteidigen können wird. Was letzteren angeht, lässt er im Übrigen eine auch nur annähernd gründliche Begriffsbestimmung vermissen. Darum kann Biebricher den Unterschied und den Konflikt zwischen beiden Positionen nicht fassen – das ist eine Unschärfe, die irritiert. Aber das ist auch das einzige Manko in einem ansonsten historisch und intellektuell weit ausholenden, dabei glänzend und geradezu unterhaltsam geschriebenen Buch.

Thomas Biebricher: "Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus"
Matthes & Seitz, Berlin 2018
320 Seiten, 28 Euro

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