Thijs Demeulemeester: "Wunderkammer"

176 Seiten Staunen: Faszinierende Sammelsurien

Buchcover Thijs Demeulemeester: "Wunderkammer". Im Hintergrund Exponate im Berliner Naturkundemuseum
Buchcover Thijs Demeulemeester: "Wunderkammer" © Prestel Verlag / dpa / M. C. Hurek
Von Eva Hepper · 27.11.2018
Exotische Tiere und Pflanzen, kostbare Diamanten und Perlen, fantasievolle Abbildungen von Fabeltieren: Anhand von Naturobjekten und Artefakten erzählt Thijs Demeulemeesters in „Wunderkammer“ die frühe Geschichte des Sammelns und Dokumentierens.
Der Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert zeigt fünf prächtige Geschöpfe. Mit ihren mähnenumwehten Köpfen und den kräftigen Körpern erinnern sie an Pferde. Allein der schafswollartige Pelz und die Ringelschwänzchen verwundern, das auffälligste Merkmal jedoch tragen die Tiere auf der Stirn: ein langes, gedrechseltes Horn. Tatsächlich präsentiert der kunstvolle Stich keine Pferde, sondern eine Übersicht "existierender" Einhörner.
Um diese Wesen rankten sich seit der Antike Legenden. Es hieß, ihre Hörner hätten magische Kräfte und würden – zu Pulver verarbeitet – gegen vielerlei Übel helfen. Doch auch unzermahlen waren die Hörner von Nutzen; etwa als Statussymbol in den mittelalterlichen Wunder- und Raritätenkammern. Dass es sich bei den Relikten tatsächlich um Narwalzähne handelte, legte erst der dänische Naturforscher und Sammler Ole Worm (1588-1654) offen. Der Mythos vom sagenhaften Tier hielt sich dennoch hartnäckig und mit ihm der Wunsch, sein Horn zu besitzen.

Vorläufer unserer Museen

Die Mär vom Einhorn sowie herrliche Abbildungen der Fabelwesen und der imposanten Hörner/Zähne stehen zentral in Thijs Demeulemeesters opulentem (Bilder-)Buch über Wunderkammern und Kuriositätenkabinette. Auf über 150 Seiten reist der belgische Journalist darin durch die Zeiten und Kontinente und erzählt die Geschichte des Sammelns und Präsentierens anhand exotischer Naturobjekte und historischer Artefakte.
Demeulemeester beginnt seine Grande Tour bei mittelalterlichen Bestiarien und frühen Karten und Texten, wie etwa der 1285 in Hereford entstandenen "mappa mundi" oder den Geschichten Gervasius’ von Tilbury für Otto IV (um 1210). So kann der Autor zeigen, wie Fantasie, Sehnsucht und auch der Wunsch, Gelehrsamkeit zur Schau zu stellen, Herrscher, Adelige und Kirchenmänner zum systematischen Sammeln inspirierten. Mit der Entdeckung neuer Länder und Kontinente entstanden dann immer üppigere Wunderkammern quasi als Museumsvorläufer. In ihnen ließ sich die Welt im wahrsten Sinne des Wortes begreifen.

Viel Überwältigung, wenig Systematik

Im Anschluss an seine hervorragende Einführung, die auch wichtige Sammlungen wie etwa die von Levinus Vincent oder Rudolf II. porträtiert, präsentiert Demeulemeester in jeweils eigenen Kapiteln Exotika aus Amerika, Afrika, Asien und dem Land der Fantasie. Kugelfische, ausgestopfte Tiere, Kokosnüsse, Muscheln, Korallen, Rhinozeros-Schädel und -Hörner, Schildkrötenpanzer, Erze, Diamanten, Textilien, Porzellane, Perlen, Weltkarten, Globen und Kupferstiche – der Autor weiß um den Zauber der Objekte und illustriert seine Texte mit einer Fülle von Abbildungen. Manche Doppelseite schwelgt geradezu in Opulenz und Kostbarkeit.
Leider fehlt dem Buch ein Register. Zu gerne würde man gezielt nach einzelnen Objekten oder bedeutenden Sammlungen fahnden. Da Thijs Demeulemeester darauf verzichtet, gleicht sein Buch bisweilen selbst einem Sammelsurium. Als setzte der Autor mehr auf Überwältigung denn auf Systematik, mehr auf Wunder denn auf Archivierung. Trotzdem: Wer sich darauf einlässt, kommt aus dem Staunen nicht heraus.

Thijs Demeulemeester: Wunderkammer. Eine Reise zu exotischen Kuriositäten-Sammlungen
Übersetzt von Julia Voigt
Prestel Verlag, München 2018
176 Seiten, 30 Euro

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