Theresa Hennings "Der Beginn einer neuen Welt"

Selbstfindung statt Revolution

07:00 Minuten
Foto von der Inszenierung: Eine Frau im Vordergrund, die ins Leere blickt, und eine Frau im Hintergrund, die in die andere Richtung blickt.
Bedingt durch die Verlängerung des Teil-Lockdowns verlegt das Schauspiel Hannover die Uraufführung von Theresa Hennings „Der Beginn einer neuen Welt“ ins Netz. © Isabel Machado Rios
Von Barbara Behrendt · 05.12.2020
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Ihr Jugendstück „Der Beginn einer neuen Welt“ hat Theresa Henning während des Lockdowns im Frühjahr geschrieben. Im zweiten Lockdown hat sie es am Schauspiel Hannover als Livestream uraufgeführt.
"Der Beginn einer neuen Welt" – hoffen also auf das große Umdenken durch die Epidemie. Das Virus liegt Theresa Hennings Stück zugrunde, ist jedoch mehr Anlass fürs Nachdenken über die Ungerechtigkeit der Welt, die im Ausnahmezustand deutlicher hervortritt.
"I can’t breathe", der Hilferuf von George Floyd, wird ihr zum Symbol der heutigen Gesellschaft; auch die Flüchtlingskrise und Genderthemen werden angetippt – generell die "alte" Welt gegen eine "neue" positioniert. In der alten Welt hat laut Henning der Kopf das Sagen. Kant und Hegel werden hier mal so eben als Museumsstücke abgetan, als "rassistische Dudes", ein neues Denken wird beschworen. Ein emphatischer, esoterisch raunender Text, der die Wandlung hin zu einer Gesellschaft voller Liebe und Gefühl predigt. Das "Ego" soll absterben, um ein neues Leben zu ermöglichen.


Eine Geschichte wird dabei nicht erzählt. Anfang und Ende könne es nicht geben, heißt es immer wieder. Gegliedert ist das Stück dafür in 25 Songs, "ein Soundtrack" lautet sein Untertitel. Ätna und Maribou State sind dabei, ein Remix von Feine Sahne Fischfilet und ein Song der Shout out Louds – vermutlich Theresa Hennings persönliche Pop-Hit-List.
Die Figuren heißen A, B und C, wie in der gängigen Postdramatik üblich, es könnten auch mehr als drei sein. Der Autorin ist nur ein ausgewogenes Verhältnis zwischen "Männern, Frauen und Non Binary Persons" wichtig und eine nicht ausschließlich weiße Besetzung. Auch das ein Statement für die "neue Welt". In der Regieanweisung heißt es: "Die Musik erzählt das Stück. Emotion. Sein. Sprache ist zweitrangig." Paradox, ein Stück zu schreiben, das sich nicht für Sprache interessiert. Man merkt es dem Text in seiner Teenager-Tagebuch-Poesie durchaus an.

Stück ohne zwingendes Konzept

Henning bringt den Text nun selbst zur Uraufführung. Für ihre Inszenierung am Grips Theater hat sie kürzlich eine Nominierung für den Faust-Preis erhalten. Hier nun schaut man auf die unverkleidete Bühne der kleinen Spielstätte in Hannover. Darauf ein sechseckiges, mehrstufiges Podest, eine Art Show-Treppe. Außen herum die drei jungen Spielerinnen Sabrina Ceesay, Tabitha Frehner und Nils Rovira-Muñoz. Sie tanzen ums Podest, legen sich auf den Boden, Neonleuchten flackern, man klettert auf umstehende Bühnenteile.
Kein zwingendes Konzept, das der Regisseurin hier für ihren Text eingefallen wäre. Die Inszenierung hängt im abstrakten, luftleeren Raum. Wichtiger als der Raum sind jedoch die Songs, die in den jeweiligen Szenen eingespielt werden.
Im Livestream nun filmen mindestens zwei Kameras, in die die Spieler ihre Gesichter halten. Alles live, nichts ist aufgezeichnet. Mehr als 4000 Menschen haben zugesehen, schrieb das Theater hernach. Doch es bleibt, trotz unterlegtem Musikteppich, eine spröde Angelegenheit. Die Atmosphäre, die durch die Musik entstehen soll, stellt sich über den Bildschirm kaum her.

Lobpreisung der Liebe

Der Abend wabert sich zu einem einzigen gefühligen Song zusammen, der Jugendlichen Hoffnung geben soll, driftet jedoch immer mehr ins Psycho-Esoterische. Gravierender ist allerdings seine Stromlinienförmigkeit: Glaube an die Liebe, lass dich von den Gefühlen mitreißen, schmeiß Kant und Hegel weg – als würde in unserer Welt nicht ohnehin schon das individuelle Gefühl höher geschätzt als die wissenschaftliche Analyse.
Floyds Todessatz "I can’t breathe" für diese gänzlich unpolitische Therapiestunde zu instrumentalisieren, ist mindestens grenzwertig. Die Einsamkeit der Menschen in der Konsum- und Leistungsgesellschaft thematisiert der Abend zurecht – doch von der Kraft des Aufbegehrens und gesellschaftlichen Wandels, die hier angeblich verhandelt werden, ist nichts zu sehen. Selbstfindungstrip also statt Beginn einer neuen Welt.
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