Therapie nach Kindesmissbrauch

"Wir müssen lernen, mit diesem Thema besser umzugehen"

Das Bild zeigt Schattenrisse von drohenden Händen eines Erwachsenen und den Schatten eines Kinderkopfes.
Bei den meisten Kindern führte der Heimaufenthalt zu erheblichen Traumatisierungen. © dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Julia von Weiler im Gespräch mit Axel Rahmlow · 07.08.2018
Ein erfülltes Leben nach Missbrauch ist natürlich möglich, sagt die Therapeutin Julia von Weiler. Es sei aber ein Leben mit Narben. Die betroffenen Kinder müssten die Taten benennen dürfen, der Therapeut sollte unerschrocken sein und sie dadurch stützen.
Axel Rahmlow: Die Mutter eines zehnjährigen Jungen und ihr Lebensgefährte sind also zu langen Haftstrafen verurteilt worden für Vergewaltigung, Missbrauch und Zwangsprostitution. Das Urteil ist rechtskräftig, denn die Mutter hat es noch im Gerichtssaal angenommen. Sie wolle, Zitat, für ihren Sohn ein Zeichen setzen, "dass jetzt wirklich Ruhe ist".
Nun, das gilt vielleicht juristisch, aber wo dieser Prozess jetzt endet, geht das Leben ihres Jungen natürlich weiter. Er muss seine Erfahrung verarbeiten, er muss lernen, damit umzugehen, und wie das gelingen kann, das weiß Julia von Weiler. Sie ist Psychologin und leitet den Verein Innocence in Danger, der Kinder und Jugendliche vor sexuellem Missbrauch schützen soll. Guten Tag, Frau von Weiler!
Julia von Weiler: Guten Tag!

"Ein ganz wichtiges Zeichen für diesen Jungen"

Rahmlow: Frau von Weiler, wird für diesen Jungen jemals Ruhe sein?
von Weiler: Ich glaube absolut, dass das möglich ist, und die Mutter hat in der Tat ein ganz wichtiges Zeichen für diesen Jungen gesetzt. Eine Erfahrung, die ich mache in der Begleitung von betroffenen Kindern und Jugendlichen ist nämlich genau die, dass Täter und Täterinnen nicht die Verantwortung für ihre Taten übernehmen und immer so ein bisschen rumjammern und rumnölen und damit die Kinder immer und immer in der Verantwortung quasi für ihr Wohlergehen halten. Die Mutter hat ihn heute mit der Anerkenntnis des Urteilsspruchs tatsächlich aus dieser Verantwortung genommen und auch ein Stück weit befreit, das ist etwas ganz Wichtiges.
Und wir dürfen nicht vergessen, dass dieser Junge schon Unglaubliches überstanden hat und sein Leben natürlich nie mehr so sein wird, wie es vor diesen Taten hätte werden können, das ist unwiderruflich vorbei – sexueller Missbrauch verändert das Leben unwiderruflich für immer –, aber er kann natürlich ein erfülltes und auch erfüllendes Leben führen mit den Narben, die er sich in seiner Jugend und Kindheit zugezogen hat.
Rahmlow: Wie können Psychologinnen wie Sie Jungen wie ihm dabei helfen, dass er so ein Leben führen kann?
von Weiler: Wichtig ist, ihn wirklich in seinem Prozess zu begleiten, und das bedeutet vor allen Dingen, dass ich als Therapeutin oder Therapeut keine Angst vor diesem Thema und auch keine Angst vor dem Benennen der Taten haben darf. Es kommt immer wieder vor, dass mir Kinder und Jugendliche erzählt haben, ja, in der Therapie, da spielen wir und machen irgendwie so ganz schöne Dinge, aber ich glaube nicht, dass ich der oder dem jemals erzählen könnte, was da wirklich passiert ist, das halten die gar nicht aus.
Kinder und Jugendliche, betroffene Mädchen und Jungen müssen die Erfahrung machen, dass ich als ihr Gegenüber das sehr wohl aushalte, dass ich sie als nach wie vor sehr wertvolle, liebevolle Mädchen und Jungen erlebe, denen ich mich gerne zuwende, die ich eben nicht ablehne für die Taten, die man an ihnen begangen hat – das muss man ja in diesem Fall wirklich so klar sagen. Das heißt, es geht über ganz viel Beziehungsarbeit und meiner, wenn Sie so wollen, Unerschrockenheit, diesem Thema zu begegnen. Das erlaubt es den Mädchen und Jungen, in ihrem Tempo und auf ihre Art und Weise diesem Thema selber auch begegnen zu können.

"Lernen, langsam wieder Vertrauen zu fassen"

Rahmlow: Sie sagen, das Tempo der Jungen und Mädchen – gehört es zu Ihrer Aufgabe aber auch, an einigen Stellen zu fordern?
von Weiler: Da, glaube ich, wo ganz lange und ausführlich vermieden wird, weil die Angst zu groß ist, ist meine Aufgabe, Sicherheit zu geben und durchaus auch immer wieder anzustoßen, sich dort hinzubegeben. Was ich nicht tun sollte, ist, quasi mich von der Angst und dem Widerstand, dem inneren Widerstand des Kindes anstecken lassen und dann selber so was wie eine Vermeidungsstrategie zu entwickeln – das wäre ganz falsch.
Wenn ich sage, ich muss mich auf das Tempo einlassen, dann heißt es eben, dieser Junge hat eine ganze Menge zu verarbeiten: Der ist aus seiner Familie genommen worden, der muss sich auf neue Beziehungen einlassen, er hat körperliche Verletzungen erlebt, seine Intimsphäre ist auf gemeinste und böseste Art und Weise verletzt worden, wieder und wieder und wieder. Seine Bezugspersonen, denen er eigentlich hätte vertrauen können müssen, haben ihn, wenn Sie so wollen, verraten und verkauft, und jetzt muss er eben lernen, langsam wieder Vertrauen zu fassen. Und ich als Gegenüber muss Vertrauen in den Jungen haben. Ich glaube, mit eine der wichtigsten Aufgaben in der Therapie ist, Zuversicht und Vertrauen für die Klientinnen und Klienten mit zu haben, damit sie das auch selber wieder entwickeln können.
Ein Mädchen spielt unter Aufsicht einer Therapeutin mit Figuren in einer Kinderschutzambulanz.
Ein Mädchen spielt unter Aufsicht einer Therapeutin mit Figuren in einer Kinderschutzambulanz.© imago/Sommer
Rahmlow: Bevor wir zu diesen Bezugspersonen gleich kommen, eine Frage noch dazu: Was ist, wenn die Kinder nicht reden wollen oder nicht reden können, wie versuchen Sie dann, sie zu erreichen?
von Weiler: Kinder sind ja auf vielfältige Art und Weise erreichbar, und das Spiel – das klingt immer so, als würde man mit denen auf den Spielplatz gehen und ein bisschen schaukeln oder so, so ist es gar nicht –, das Spiel ist aber eine ganz wesentliche und wichtige Möglichkeit für Kinder, sich neu zu erleben auch in einer Beziehung: Also zum Beispiel zu erleben, ich bin derjenige, der Spielregeln festlegen darf, die hält sich dann auch daran, die spielt weiterhin mit mir, auch wenn ich die ganze Zeit mogele, oder sie sagt, mogeln gilt jetzt nicht mehr, dann muss ich mich auch an diese Regeln halten, und sie hält sich aber auch an diese Regeln. Das heißt, über ganz viele Kleinigkeiten kann ich sehr wohl ein Modell für eine gute, gesunde Beziehung sein, in der das Kind sich dann entwickeln kann.
Ich erinnere mich an einen sehr, sehr kleinen Jungen, mit dem ich therapeutisch-diagnostisch gearbeitet habe, der war damals vier, und in meinem Raum damals befand sich tatsächlich eine Schaukel, und immer, wenn es für ihn zu anstrengend wurde und zu viele Gefühle im Spiel waren, dann musste er auf diese Schaukel klettern und schaukelte bis unter die Decke. Und meine Aufgabe war es, zum einen dafür zu sorgen, dass er nicht von dieser Schaukel plumpst und sich wehtut, und zum anderen aber auch ihm zuzutrauen, dass er das schafft, und ihn darin zu lassen, um dann wieder zurückzukehren zum Thema, das auch anstrengend ist.

Pflegefamilie sollte nicht die Familie ersetzen

Rahmlow: Also Vertrauen geben, Regeln aufstellen, die dann für alle gleichzeitig gelten. Sie haben gerade schon angesprochen natürlich die Eltern, in diesem Fall natürlich besonders schlimm, dass die Eltern beteiligt waren, in diesem Fall die Mutter, und damit der Anker des Kindes wegfällt, die Familie, die ja in anderen Missbrauchsfällen oft so eine Art Rückhalt werden kann, wenn es gut funktioniert. Nun aber muss da eine Pflegefamilie einspringen, sag ich mal. Wie kann es dieser Pflegefamilie gelingen, ein neuer Anker zu sein?
von Weiler: Ganz wichtig ist, dass sie nicht versucht, die Familie zu ersetzen, sondern dass sie ein eigenes Beziehungsgefüge wird sozusagen, denn dieser Junge hat erst mal eine Mutter, der braucht nicht noch 'ne Mutter. Der muss auch sich verabschieden dürfen, der muss auch trauern dürfen um seine Mutter, und er muss auch trauern dürfen um die Tatsache, dass seine Mutter nie die Mutter war, die er vielleicht gebraucht hätte. Das bedeutet, diese Pflegefamilie muss viel Geduld haben, sie muss sich darüber im Klaren sein, dass nur, weil er jetzt in einer, sagen wir mal, gut funktionierenden Familie wohnt, es nicht sofort heißt, dass alle diese Wunden sich schließen werden und auch verheilen werden.
Diese Pflegefamilie bedarf einer wirklich guten Begleitung ihrerseits durch Fachleute, mit denen die sich austauschen können, denn eine Erfahrung, die wir immer wieder machen, gerade auch bei traumatisierten Kindern, die in Pflegefamilien untergebracht werden, ist, dass wenn die Kinder dort erst mal angekommen sind und sich sicher fühlen, dann wird es kompliziert. Vorher leisten die wahnsinnig hohe Anpassungen. Die machen alles mit und die räumen immer auf und die sind immer pünktlich und die essen alles auf und die meckern nie, und dann, nach einer gewissen Zeit, das dauert unterschiedlich lange, je nach Kind, kommen die an, fühlen sich sicher, und in der Sicherheit fangen sie dann an, eben Grenzen auszuloten, dann werden sie frech und widerständig. Und da wackelt es oft dann in diesen Pflegefamilien ganz ordentlich, wenn die nicht selber auch gute Begleitung haben, die das immer wieder mit ihnen sortiert.
Und als Letztes dazu noch mal zu sagen: Das Verrückte, wenn Sie so wollen, und besonders Herausfordernde an dieser Arbeit ist, dass wir als Profis – und das ist eine Pflegefamilie natürlich auch – mit unserem ganzen Sein uns einlassen auf das Kind und dabei es trotzdem schaffen müssen, das immer wieder auch professionell mit Abstand zu betrachten. Und das gelingt mir eigentlich nur dann gut, wenn ich eine gute professionelle Begleitung habe.
Rahmlow: Und diese Pflegeeltern, die werden auch auf diese essenziell wichtige Rolle gut vorbereitet und dann auch gleichzeitig gut mitbetreut?
von Weiler: Das wäre sehr zu hoffen. Meine Erfahrung ist, dass das leider ganz häufig nicht der Fall ist. Ich würde davon ausgehen, dass in diesem Fall man sich eine sehr versierte – hoffentlich – und stabile Pflegefamilie ausgesucht hat, die man natürlich gut begleitet. Und jetzt werde ich mal so ein bisschen zynisch, denn das Jugendamt in Freiburg kann sich tatsächlich nicht leisten, dass diese Hilfe jetzt nicht gut funktioniert. Für diesen Jungen ist es jetzt natürlich ganz essenziell wichtig, dass die Beziehungen, die ihm jetzt angeboten werden, auch sich als verlässlich erweisen. Es wäre wirklich ganz bedauerlich und retraumatisierend für diesen Jungen, wenn das vor die Wand kachelt sozusagen, wenn die Familie nicht funktioniert, wenn er in eine andere Familie muss, wenn er in ein Heim muss und dann lauter Wechsel stattfinden. Das allerdings ist eine Karriere, wie sie in der Kinder- und Jugendhilfe leider gar nicht so selten vorkommt.

Fundierte Diagnostik braucht Zeit

Rahmlow: An welchen Stellschrauben liegt das, oder anders gesagt, durch welche Stellschrauben könnte denn diesen Kindern noch mehr geholfen werden?
von Weiler: Kinder, die in Pflegefamilien untergebracht werden, könnte tatsächlich besser geholfen werden, wenn diese Pflegefamilien wahnsinnig gut ausgesucht werden, wenn die Pflegefamilien selber gute Begleitung bekommen in diesem Prozess und man sich auch genau überlegt, welches Kind passt denn in welche Familie, und für welches Kind passt eine Familie vielleicht auch gar nicht.
Das bedeutet, am Anfang einer jeden guten Hilfe – das wissen wir auch beim Arzt – steht eine gute, fundierte Diagnostik, und für die muss ich mir Zeit lassen. Dafür brauche ich Orte, an denen Kinder gut aufgehoben sind und man sich wirklich mit ausreichender Ruhe und Professionalität anschaut, wie geht's diesem Kind, was braucht dieses Kind in diesem Augenblick, was braucht dieses Kind vielleicht in drei Jahren, wie könnte sich das entwickeln und wer sind die Menschen, die wir diesem Kind jetzt am besten an die Seite stellen. Die Erfahrung lehrt leider, dass dann natürlich haushalterische Fragestellungen der Jugendämter nicht dazu führen, dass die optimale Leistung angeboten wird, wenn Sie so wollen, sondern dass man die Leistung nimmt, die man sich gerade leisten kann, und das heißt nicht immer unbedingt das Beste für das betroffene Kind.
Rahmlow: Eine abschließende Frage: Es ist sehr viel daraus gemacht worden, sehr viel darüber diskutiert worden, dass die Mutter hier Täterin gewesen ist. Macht das für Kinder einen Unterschied, ob es die Mutter oder der Vater war?
von Weiler: Ich glaube, dass es für Kinder egal wie schrecklich ist, wenn es eine so unmittelbare Vertrauensperson ist. Die Mutter nehmen wir natürlich immer noch mal wahr als die ganz besonders enge Bezugsperson, und so ist es ja auch – also mit der war ich symbiotisch verbunden, neun Monate lang im Körper. Dazu wissen wir tatsächlich von Betroffenen noch gar nicht genügend, weil wir uns mit dem Phänomen Frauen als Täterinnen bisher noch viel zu wenig auseinandersetzen. Ich glaube, dass im Moment das Entsetzen der Öffentlichkeit und der Gesellschaft ob der Tatsache, dass hier eine Mutter in der Lage war, sich an solchen grausamen Taten aktiv zu beteiligen und sie vielleicht auch zu forcieren, sehr viel größer ist als das Entsetzen des Jungen, denn – und das klingt jetzt total absurd, aber es ist die Realität – das war seine Normalität, das war seine Mutter, der hat keine andere. Das heißt, er musste sich so oder so oder so mit ihr arrangieren, das heißt, er hat auch gar keine Vergleichsmöglichkeit, zu sagen, mhm, wenn es jetzt nur der Papa gewesen wäre, wäre es vielleicht nicht so schlimm gewesen. Wir als Gesellschaft müssen lernen, mit diesem Thema sehr viel besser umzugehen, und wir müssen lernen, da vor allen Dingen echt hinzugucken und in Fällen sexueller Gewalt die Frau nicht per se als Täterin immer auszuschließen.
Rahmlow: Julia von Weiler vom Verein Innocence in Danger über die Frage, wie traumatisierten Kindern geholfen werden kann, wenn sie Opfer von sexuellem Missbrauch geworden sind. Frau von Weiler, herzlichen Dank!
von Weiler: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mehr zum Thema