Therapie für Alkoholkranke im Dorf Serrahn

Mit Ruhe und Landluft gegen die Sucht

16:29 Minuten
Menschen sitzen in der Sonne auf einem Steg am See von Serrahn.
Hier kann die Seele Ruhe finden: Das Gelände der Entzugsklinik in Serrahn liegt direkt am See. © Natalie Putsche
Von Natalie Putsche · 11.11.2019
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Alkoholsucht macht einsam. Ein Reha-Klinik am Serrahner See in Mecklenburg setzt deshalb auf die heilsame Kraft der Dorfgemeinschaft. Das einzigartige Wohnprojekt mit SOS-Station wurde schon 1971 in der DDR gegründet.
"Serrahn ist ja fast wie ein Paradies", sagt Danilo. "Wenn morgens die Sonne aufgeht, und die Natur: Das ist schon ein kleines Stück Paradies." Ich treffe ihn allein auf dem Steg am See. Traumhafte Aussicht, unzählige Vögel, zwei Männer, die noch ein paar Meter schwimmen. Danilo ist seit drei Wochen wieder in Serrahn. "Ja, mein Problem ist der Alkohol", sagt er.

Ziegen und Hühner spenden Ruhe

Der 42-Jährige war schon einmal hier. "Nach dem Tod von meinem Vater, der ist 2011 gestorben, bin ich eben das erste Mal hier gelandet", sagt Danilo. Der Ort habe ihm damals geholfen wieder trocken zu werden. Bis vor einem Jahr. Dann starb auch seine Mutter: "Ich lag einen Monat lang wie paralysiert im Schlafzimmer auf dem Bett. Ich hab gedacht: Durch den Tod meines Vaters bin ich irgendwo drauf vorbereitet, aber kann man vergessen."
Ein paar Schritte vom See entfernt stehen Ziegen auf der Weide. Ein Stück weiter, hinter den Gewächshäusern, haben Hühner ihren Auslauf. "Die haben wir seit Mai, April angeschafft", sagt Jürgen Schzibalsky, der Leiter der SOS-Station. "Das Biotop, die Hühner, das befriedet ja auch ein bisschen." Es gehört zu den Aufgaben auf dem Hof, sich um die Tiere zu kümmern. "Das macht einer vom betreuten Wohnen", sagt Schzibalsky. "Hat er mich gefragt, ob er das machen darf und ist auch ein Zuverlässiger, macht er gut."
Ansicht des Grundstücks am Seeufer mit viel Grün und kleinen Holzhütten.
Blick in den Garten: Die Menschen in Serrahn schätzen den direkten Kontakt zur Natur.© Natalie Putsche
Jürgen Schzibalsky hat hier noch auf dem Feld gearbeitet. Kartoffeln und Rüben geerntet. Wie einige andere, ist auch der 56-Jährige vor über 20 Jahren hier gestrandet: völlig kaputt, als Hilfesuchender. "Ich bin als Obdachloser aufgeschlagen und hatte nur noch den Wunsch zu sterben", erinnert er sich. Schzibalsky ist sich sicher, dass Serrahn für sein Überleben gesorgt hat. Und vor allem Heinz Nitzsche. Sein Name fällt hier immer wieder.

In der DDR galt: Trinker schaden dem Sozialismus

1971 begann Nitzsche hier, sich um Alkoholiker zu kümmern. Zu diesem Zeitpunkt ein Novum. Hilfe für Alkoholkranke gab es damals in der DDR nicht. Im Gegenteil: Säufer galten als Täter, die dem System schadeten. Nitzsche aber habe an ihn und viele andere geglaubt und sie in sein Haus, die heutige SOS-Station, aufgenommen, sagt Schzibalsky:
"Die SOS-Station ist ein Haus, dass es mit dem Charakter eigentlich nur einmal in Deutschland gibt: Hier kommen Menschen aus den unterschiedlichsten Lebenslagen und Schichten zu uns, vom Hotelmanager über Oberstudienräte, bis hin zu Menschen, die aus der JVA zu uns kommen. Und die SOS nimmt die Leute völlig unbürokratisch auf. Die Leute tragen einen Eigenanteil, je nach finanzieller Lage, und der Rest wird von Spenden getragen."
Das war schon damals zu Heinz Nitzsches Zeiten so. Zwar habe der gläubige Automechaniker Nitzsche keine medizinische Ausbildung gehabt, dafür gab es engen Kontakt zu befreundeten Ärzten und Kliniken. Nitzsche und dessen Frau Martina hatten eine Mission: den alkoholkranken Männern eine Familie zu bieten und ihnen durch das Zusammenleben einen Neuanfang zu ermöglichen.

Von der SOS-Station zum betreuten Wohnen

Das ist auch heute noch das Ziel. In der SOS-Station gibt es keinen festen Therapieplan. Jeder übernimmt nach Wunsch und Interesse ein paar kleinere Aufgaben, zum Beispiel das Gießen in den Gewächshäusern und die Ernte von Gurken, Tomaten oder Kirschen. "Im letzten Jahr haben wir 170 Kilo Sauerkirschen entsteint", erzählt Schzibalsky. "Da musste ich ab und zu mal einen Grill spendieren, um die Laune hochzuhalten."
14 Männerbetten und vier Frauenbetten hat die SOS-Station. Elf sind aktuell belegt. Einzige Bedingung für die Aufnahme: Die potenziellen Bewohner müssen ihre Entgiftung hinter sich haben. Nach drei, maximal vier Monaten, je nach Absprache mit den Therapeuten, soll dann der nächste Schritt gemacht werden. In der Regel geht es gegenüber in der Reha-Klinik weiter oder im Doppeldiagnosezentrum, wenn zum Alkohol auch noch eine psychiatrische Erkrankung dazu kommt. Am Ende steht das betreute Wohnen.
Ein Schild in Serrahn weist den Weg zur SOS Station und zur Reha-Klinik für Suchtkranke.
Die einzige Bedingung für die Aufnahme in der SOS-Station: Die potenziellen Bewohner müssen ihre Entgiftung hinter sich haben.© Natalie Putsche
Abends am Lagerfeuer treffe ich Danilo wieder, mit dem ich kurz auf dem Steg gesessen habe. Und ich lerne Falco kennen. Der gelernte Koch ist seit einem Monat hier. Hier an der Feuerstelle wirkt die Runde wie ein Ferienlager. Aber verklären darf man natürlich auch nicht. Falco ist vor ein paar Tagen rückfällig geworden, hat sich aber noch in derselben Nacht Jürgen Schzibalsky anvertraut. Und auch das Miteinander hat, wie überall, seine Grenzen.
"Es gab auch Tage: Grad zehn Minuten am Tisch gesessen, und dann Riesenstreit", sagt Falco. "Kommen ja so viele verschiedene Charaktere aufeinander." In der Runde kehrt Ruhe ein. Ich frage Falco, wie lange er wohl nicht mehr an einem Lagerfeuer gesessen hat. "Ich weiß es tatsächlich nicht mehr", sagt er, "20, 25 Jahre." - "Das ist halt die Leistungsgesellschaft", ergänzt Danilo. "Du vergisst dabei die schönen Sachen. Du bist nur am Rackern."

Am Feuer lässt es sich frei sprechen

Es wird viel miteinander gesprochen hier am Feuer. Dabei viel geraucht. Viele die hier sind, kennen auch andere Einrichtungen. Aber Serrahn sei schon etwas Besonderes. Auch für Falco: "Wenn man zusammensitzt, spricht man miteinander. Es ist anders, als wenn man mit einem Mediziner spricht oder Psychiater. Also, ich denke schon, dass das der einzige Ort ist, der direkt so viel Kontakt mit der Natur hat."
Am nächsten Morgen treffe ich Patrick. Er ist im Doppeldiagnosezentrum untergebracht und spielt, zusammen mit einem anderen Bewohner, beseelt mit einem großen Hund. "Tosca ist der Hund von einem von der SOS drüben", erklärt Patrick. Heute hat er die Aufgabe übernommen, sich um Tosca zu kümmern. "Heute Nachmittag hab ich noch einen zweiten Hund", sagt er, "und dann ist mein Tag voll ausgelastet."
Patrick ist 22. Er hat Angst vor einer erneuten Psychose, genießt die Ruhe hier, sagt, er brauche so einen Ort wie Serrahn. Und plant, wie etliche vor ihm, hier oder in der Nachbarschaft zu bleiben. "Es ist eine familiäre Umgebung. Und ich hab gesagt: Betreutes Wohnen mach ich in Serrahn. Und dann zieh ich nach Kugelmist, da sind auch Häuser, Neubauten. Und dann kann ich jeden Tag hierher kommen, setz mich unten an den See, werd mir einen Hund holen. Ist echt schön hier. Guck: überall Grünzeug! Bäume, frische Luft. Was will man mehr?"
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