Theologe und Taxifahrer Thomas-Dietrich Lehmann

Der Idealisten-Pfarrer

33:26 Minuten
Porträt des Pfarrers Thomas-Dietrich Lehmann, 2021.
Eine Balance finden zwischen Idealismus und Realität: Das brachte Thomas-Dietrich Lehmann zur Gefängnisseelsorge. © Thomas-Dietrich Lehmann
Moderation: Katrin Heise · 08.06.2021
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Hauptberuflich arbeitet er als Gefängnisseelsorger, nebenberuflich ist Thomas-Dietrich Lehmann Taxifahrer und Stadtführer. Die Westberliner Hausbesetzerszene prägte ihn nicht nur politisch. Bis heute lebt er in einem alternativen Wohnprojekt.
Stille Meditation im Knast? Für den Gefängnisseelsorger Thomas-Dietrich Lehmann ist das Routine. Der evangelische Pfarrer bietet sie – außer in diesen Coronazeiten – in der Berliner Haftanstalt Moabit an, neben Andachten und Gesprächen. Innere Einkehr könne in einer derart "totalen Institution" sehr hilfreich sein, so Lehmann. "Nichts kannst du selber bestimmen, alles wird bestimmt. Dass du da drin, zum Beispiel in der Kirche oder im Pfarrbüro, in die innere Stille gehst und damit in einen autonomen Bereich, wo dir niemand reinreden kann – das fasziniert Inhaftierte."

"Die Institution Kirche war mir fremd"

Thomas-Dietrich Lehmann ist seit 1988 Seelsorger, doch ein "richtiger Pfarrer" war er nie, sagt er. Da kam ihm doch zu oft sein Idealismus dazwischen. 1955 wird er im beschaulichen Süden Berlins geboren, in ein "grundsoziales Elternhaus". Der Vater ist Schulpfarrer, die Mutter Musikpädagogin.
Theologie zu studieren, ist zunächst nicht sein Plan: "Als ich das Abitur hatte, wollte ich eigentlich aus der Kirche austreten. Der Laden hat mich nicht interessiert; die Institution Kirche war mir fremd." Letztlich überzeugt ihn aber die politisch orientierte Jugendarbeit des Gemeindepfarrers Heinrich Albertz, Mitglied der Bekennenden Kirche und in den 60er-Jahren Regierender Bürgermeister in Berlin. Und so studiert Thomas-Dietrich Lehmann zunächst Jura und Sozialpädagogik, in den 70er-Jahren schließlich Theologie.
Lehmann lebt in Wohngemeinschaften, ist Teil der Westberliner Hausbesetzer- und Alternativszene. Dafür habe es "in diesem Staat bestenfalls eine Nische" gegeben. "Der Kampf gegen die Atomkraftwerke, auch gegen die Atombombe natürlich – und dafür bist du in den frühen Jahren verhauen worden. Da ist es rabiat zugegangen. Und da war der Staat, vorsichtig gesagt, nicht mein Freund."

"Du gehörst an die Seite der Armen"

1988 erhält er seine Ordinierung als Pfarrer, doch er geht seinen eigenen Weg, will "Arbeiterpfarrer" werden. Eines seiner Vorbilder: Dietrich Bonhoeffer. Er lässt sich bewusst nicht verbeamten, arbeitet zum Lebensunterhalt zeitweise in einer Druckerei, bis heute fährt er Taxi. "Das war der Idealismus, in den Glauben übersetzt, zu sagen: Du gehörst an die Seite der Armen." Gemeinsam mit 30 anderen Mitbewohnerinnen und Mitbewohnern lebt er in einem Wohnprojekt im Berliner Wedding, damals direkt an der Mauer. Von seinem Fenster aus schaut er auf Ostberlin. Er unterstützt Oppositionelle und die Friedensbewegung in der DDR, erhält ein Einreiseverbot.
Den Fall der Mauer bekommt er erst so richtig mit, als Freunde aus Ostberlin am 9. November 1989 vor seiner Tür stehen. "Jetzt kommen wir euch mal besuchen." Der ersten Freude über die Wiedervereinigung folgt jedoch auch Ernüchterung – auf beiden Seiten: "Wir haben uns erst mal gar nicht verstanden. Weil, wir hatten beide unsere Visionen im Kopf – und es passte nicht zusammen."

"Du kannst aufs Land gehen oder in den Knast"

Bis heute lebt Thomas-Dietrich Lehmann in dem Wohnprojekt, mit seiner Frau, anfangs auch mit seinen heute erwachsenen Kindern. Als Kleinkinder hätten sie die Freiheiten in dem Haus geliebt, erinnert sich Lehmann. Das habe sich in der Pubertät geändert: "Von meiner Tochter gibt es das schöne Bonmot: 'Papa, das ist hier viel zu ranzig, das geht überhaupt nicht'." Und auch seine Frau stellt irgendwann die Existenzfrage: "Alter, du lebst da in Verhältnissen, guckst auf dich – alles gut und schön. Aber wir werden älter, und was ist dann, wenn du krank wirst? Über deine Rente, da kann ich nur drüber lachen."
Thomas-Dietrich Lehmann muss eine Balance finden, zwischen seinem Idealismus und der Realität. Er wendet sich an die Kirche: "Ich hab' gesagt im Konsistorium: Ich habe keine Kohle mehr, Leute." Das Angebot der Kirche: "Du kannst aufs Land gehen oder in den Knast. Dann, hab' ich gesagt, nehme ich den Knast. Landmensch bin ich nicht." Und wenn der Stadtmensch Lehmann nicht im Knast arbeitet oder Taxi fährt, begleitet er Interessierte als Stadtführer durch Berlin – Überraschungen garantiert!
(sus)
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