Theodor Storm - eine zerrissene Persönlichkeit

28.07.2013
Er war jähzornig, selbstgefällig und herrschsüchtig, zugleich aber auch verletzlich und musikalisch: Die nun erschienende neue Biografie zeichnet ein an Konturen reiches Bild des Dichters Theodor Storm und gewährt Einblicke in deutsche Gefühls- und Politikzustände im 19. Jahrhundert.
"Du graue Stadt am Meer …": Die wohl berühmteste Gedichtzeile Theodor Storms (1817-1888) steht bereits im Titel – und tatsächlich ist die Landschaftsbetrachtung eines der Hauptmerkmale in Jochen Missfeldts Storm-Biografie. Der Schriftsteller und ehemalige Pilot Missfeldt identifiziert sich selbst mit Storms Marsch- und Geestlandschaft, dem Lokalkolorit und der Mentalität Schleswig-Holsteins, das merkt man vor allem den einführenden Passagen an. Es ist eine anschaulich und flott geschriebene Biografie, die vor allem Wert auf die psychologische Darstellung des Menschen Storm legt. Und das wirkt, nach ungefähr zwanzig vorangegangenen Lebensbeschreibungen dieses großen Vertreters des epischen Realismus, erfrischend zeitgenössisch.

Missfeldt schafft es etwa, atmosphärisch deutlich zu machen, dass Lyriker wie Heine, Eichendorff und Mörike in Storms Jugend- und Studentenzeit zu den absoluten Neutönern und Modernen gehörten – in Husum, Storms Heimatstadt, existierten diese Schriftsteller nicht. Storm wuchs vor allem mit der klassischen Philologie auf, übersetzte aus dem Altgriechischen und Lateinischen, lernte Dänisch und Französisch, und wenn es einen zeitgenössischen Schriftsteller gab, den er zunächst wahrnehmen konnte, war es der in Thomas Manns "Buddenbrooks" als "Jean-Jacques Hoffstede" stolzierende Lübecker Reimekünstler Emanuel Geibel. Verse Heines und Eichendorffs elektrisierten Storm unter diesen Bedingungen.

Storms Neigung zu minderjährigen Frauen
Missfeldt arbeitet seine augenfälligsten Eigenschaften schön heraus: den Jähzorn, die Selbstgefälligkeit und Herrschsucht, aber auch die Verletzlichkeit und Musikalität. Nervenkrisen und Nervenleiden waren auf der mütterlichen Seite seiner Familie weit verbreitet. Bei seiner Mutter war es der basso continuo ihrer Existenz, seine Tante endete in der Irrenanstalt. Storm heiratete just deren Tochter Constanze, also eine Cousine ersten Grades, mit der er sieben Kinder hatte, von denen einige ebenfalls psychisch erkrankten.

Die Neigung Storms zu minderjährigen Frauen, seine Beziehung zu der 16-jährigen Doris Jensen bereits im ersten Jahr nach seiner Eheschließung – sie wurde nach dem Tod seiner ersten Ehefrau dann seine zweite – dies sind nur die auffallendsten Merkmale einer in sich zerrissenen Persönlichkeit. Missfeldt zeichnet ein sehr konturenreiches Bild davon. Gerade auf dem Höhepunkt der erotischen und emotionalen Verwirrungen Storms, 1848, geriet er auch in politische Turbulenzen: In Schleswig-Holstein scheiterte die deutsch-nationale Bewegung an den Dänen und Preußen, und im zeitweiligen Exil in Potsdam lernte der Freigeist Storm auch die Preußen hassen, obwohl er mit Theodor Fontane gleichzeitig eine dichterische Freundschaft schloss. Das Buch gibt neben einem umfassenden Einblick in die Dichterpersönlichkeit Storms auch einen interessanten Abriss über deutsche Gefühls- und Politikzustände im 19. Jahrhundert.

Besprochen von Helmut Böttiger

Jochen Missfeldt: Du graue Stadt am Meer. Der Dichter Theodor Storm in seinem Jahrhundert
Carl Hanser Verlag, München 2013
493 Seiten, 27,90 Euro
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