Theisohn: Hegemanns Verweis auf die Webkultur ist "naiv"

Philipp Theison im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 08.02.2010
Der Fall der jungen Autorin Helene Hegemann, der vorgeworfen wird, ganze Textpassagen kopiert zu haben, überrascht den Literaturwissenschaftler Philipp Theison nicht. Das Motto "Wir klauen überall" habe es schon öfter gegeben. Aber zu glauben, im Internet gelte kein Urheberrecht, sei "naiv".
Klaus Pokatzky: Wer Plagiate aufdecken will, der lebt gefährlich. Der Medizinprofessor Paul Albrecht veröffentlichte 1890 sechs Bücher, in denen er nichts anderes tat, als die Werke des großen Gotthold Ephraim Lessing Vers für Vers mit vermeintlichen Vorlagen zu vergleichen. Angelegt hatte der Medizinprofessor Paul Albrecht seine Reihe mit Plagiatsvorwürfen gegen Lessing sogar auf zehn Bände. Dazu kam es nicht, noch vor seinem Abschluss beging Paul Albrecht Selbstmord. Das und noch viel mehr erfahren wir aus dem fast 600 Seiten starken Buch "Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte", das der Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn verfasst hat, der an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, der ETH Zürich lehrt. Ihn begrüße ich nun am Telefon. Guten Tag, Herr Theisohn!

Philipp Theisohn: Guten Tag, Herr Pokatzky!

Pokatzky: Herr Theisohn, Sie als ein wahrer Experte des Plagiats in der Literaturgeschichte, hat sie das Plagiat der jungen Helene Hegemann noch überraschen können?

Theisohn: Na ja, also überraschen können als Fall nicht sonderlich, zumal wir vor ein paar Jahren mit Frank Schätzings "Schwarm" schon einen sehr, sehr ähnlich gelagerten Fall hatten, wo es auch darum ging, dass aus dem Netz, aus Blogs und aus Berichten im Internet Sachen in einen Roman übertragen wurden. Was an dem Fall natürlich vielleicht überrascht, ist seine Konsequenz und im Grunde die Konsequenz, mit der er uns zu einer Diskussion treibt über die literarische Kultur, die wir haben wollen. Wir haben im Grunde ... Im Grunde zeigt sich an diesem Fall Hegemann eigentlich der Konflikt, den wir augenblicklich haben, zwischen verschiedenen Auffassungen literarischer Kultur.

Pokatzky: Also Helene Hegemann selber, die sich inzwischen ja auch leicht entschuldigt hat in einer Pressemitteilung des Ullstein-Verlages, der ihr Buch herausgegeben hat, sagt andererseits aber auch, heute Morgen zu hören in einem Beitrag, den wir über sie im "Radiofeuilleton" ausgestrahlt haben: Also ich klaue einfach hauptsächlich. Und über den Ullstein-Verlag sagt sie: Originalität gibt es sowieso nicht, nur Echtheit. Das, was wir machen, ist eine Summierung aus den Dingen, die wir erleben, lesen, mitkriegen und träumen. Ist da jetzt so eine Art, ja, Generationenunterschied?

Theisohn: Nein, also das würde ich mit Vorsicht genießen. Ich meine, diese Argumentation, wir klauen überall, und das geht natürlich dann noch weiter: Goethe hat schon geklaut, Heine hat geklaut, Thomas Mann hat geklaut, das ist gar keine so originelle Geschichte. Dass man das zum Schreibprinzip macht, auch das ist keine so originelle Geschichte. Wir kennen das ja aus der Popliteratur. Im Grunde ist es eine, man könnte sagen, eine Attitüde der 90er-Jahre, in Deutschland zumindest, in Amerika war es noch ein bisschen früher.

Das Interessante an diesem Fall ist natürlich nun gerade, wie Sie gesagt haben, die Argumentation, die sie jetzt anführt. Ich meine, sie redet ja auch vom "Urheberrechtsexzess der Nuller-Jahre" und der quasi beendet wird, und dass sie eine der Autorinnen ist, die einer literarischen Kultur verpflichtet sind, welche quasi ohne Urheberrechtsexzess auskommt, welche einfach klaut, welche keine Originalität mehr kennt.

Das ist nun aber einfach so, wenn es diesen Urheberrechtsexzess nicht gäbe, dann gäbe es auch keinen Ullstein-Verlag und dann gäbe es keinen Literaturbetrieb, der sie als Autorin feiert, ausstellt. Sie wäre dann wahrscheinlich wie die Leute, von denen sie genommen hat, eine Bloggerin im Netz, ohne größeres Podium, und man würde nicht über sie sprechen. Insofern ist die Frage, wollen wir eine literarische Kultur haben, die Autoren kennt, Werke kennt, Verdienste kennt, auch Realität kennt, oder wollen wir eben so was wie eine neue Literatur, die über Hypertext funktioniert, und dann muss man sich entscheiden. Aber auf beiden Seiten stehen kann man eben nicht. Und das ist, glaube ich, das Problem von Frau Hegemann im Moment.

Pokatzky: Was war denn überhaupt das erste Plagiat in der Literaturgeschichte, wer war der erste Plagiator?

Theisohn: Nun gut, die Frage ist natürlich immer, was ein Plagiat ist und wer es definiert. Man kann das datieren insofern, wann gibt es die ersten Vorwürfe des Plagiats? Also, wann wer was von wem zuerst genommen hat, kann man sowieso nicht nachvollziehen, aber wann wird das zum ersten Mal im Grunde, so könnte man sagen, literarisch, ästhetisch, moralisch sanktioniert oder angeklagt?

Da sind wir im Grunde bei der griechischen Komödie, in den griechischen Komödien hat man genau den Fall, dass in den Vorspielen, in den Prologen, dass dort Leute auftreten, die andere Autoren beschuldigen, in ihren in Konkurrenz stehenden Komödien geklaut zu haben, dass die dort geklaut haben. Und letztlich ist es so, dass sich diese Plagiatsvorwürfe ganz einfach aus einem Dissens ergaben, nämlich dass tatsächlich die griechischen Dramatiker oft in Pools zusammengearbeitet haben und im Grunde gemeinschaftliche Textarbeit geleistet haben, aber dann eben in den Theaterwettbewerben gegeneinandergestellt wurden, sodass dann auf einmal die Eigentumsfrage auf die Bühne kam, wer hat was geschrieben. Und da wurde das nun eben ausagiert. Also im Grunde geht das zurück, 400 vor Christus kann man sagen, haben wir die ersten massiven Plagiatsvorwürfe.

Pokatzky: Ich spreche mit dem Züricher Literaturwissenschaftler Philipp Theisohn über Plagiate. Herr Theisohn, wann beginnt ein Plagiat?

Theisohn: Nun gut, ein Plagiat beginnt eigentlich im Grunde erst dann, wenn drei Sachen zusammenkommen, nämlich es braucht immer jemanden, der klaut, also einen Plagiator, einen Plagiierten und die Öffentlichkeit ...

Pokatzky: Die das merkt.

Theisohn: Ja, genau. Also sonst haben wir kein Plagiat. Und ein Plagiat zeichnet sich dadurch aus, dass es eben eine Erzählung im Grunde ist, wie wir sie jetzt beim Fall Hegemann auch so schon sehr schön haben, und ein Plagiat setzt auch voraus, dass wir eine Vorstellung von Literatur haben, die ein inneres Verhältnis von Text und Autor hat. Das ist eben der Unterschied, wenn wir jetzt ins Internet gehen bei diesen Leuten, die bloggen, die quasi Texte verlinken und mit ihnen spielen zum Beispiel, da hat man diese Vorstellung eben nicht mehr. Sobald wir auf den Buchmarkt gehen, haben wir diese sehr wohl schon noch, diese Vorstellungen.

Pokatzky: Als Sie Ihr Buch recherchiert haben, "Plagiat: Eine unoriginelle Literaturgeschichte", hat es da für Sie Überraschungen gegeben, dass da vielleicht doch große Namen der Weltliteratur auftauchten, bei denen Sie nicht damit gerechnet hatten, dass sie sich auf diese Weise hervorgetan haben?

Theisohn: Och, bei den meisten weiß man ja, ob es Diskussionen gegeben hat oder nicht. Also man recherchiert ja nicht, wie Herr Albrecht, den Sie ja schon erwähnt haben, nach, welche Zeile stammt von wem, man schaut nur, ob es irgendwo Widersprüche gibt, ob jemand im Grunde die Freiheit des geistigen Eigentums propagiert und selbst aber sehr wohl aufs geistige Eigentum bedacht ist oder genau umgekehrt.

Also zum Beispiel bei Brecht, das war für mich so eine Entdeckung dort, jemand, der ganz stark theoretisiert über im Grunde das Gemeinschaftseigentum von Literatur, und gleichzeitig aber nichts schlimmer findet, als dass sein Name irgendwo nicht drübersteht. Das ist im Grunde etwas, was einem auffällt, also diese Frage, das ist eigentlich das Spannende. Dass jemand geklaut hat, von dem man es nicht erwartet, das ist eigentlich nichts, was einem dann auffällt.

Pokatzky: Würde der Weltliteratur, der uns bekannten Weltliteratur etwas fehlen, wenn es keine Plagiate, keine Plagiatoren gegeben hätte?

Theisohn: Also es würde ihr etwas fehlen ... also Plagiate im Sinne einer Diskussion über das geistige Eigentum, die muss es geben, und das war immer auch fruchtbar. Also im Grunde die Geschichten, wer verdankt sich wem, das gehört zur Literatur dazu, das zeigt auch, dass die Literatur etwas Lebendiges ist. Es geht hier nicht um einfach Warenaustausch, sondern es geht darum, dass dort etwas Inneres des Menschen zum Sprechen gelangt, und dass etwas mit diesem Inneren geschieht und ein anderer es nimmt. Also das würde auf jeden Fall fehlen.

Wenn Sie mit Plagiat meinen im Grunde Rezeption und Wiederverwendung und auch Benutzung von Fremdtext, auch da ist natürlich etwas, was uns fehlen würde. Also ich meine, Entwicklung, Literatur funktioniert ganz oft einfach über Aneignung und Transformation, das ist ganz normal. Plagiatsdiskussionen kommen allerdings erst hinzu, sobald wir eben, sobald sich jemand enteignet fühlt.

Pokatzky: Das heißt, es hat auch ökonomische Aspekte durchaus, das Plagiieren?

Theisohn: Es hat, ja mittlerweile hat es ja, ich meine, das wird ja in den Feuilletons auch heute diskutiert, dass bei so Erfolgsromanen wie jetzt diesem "Axolotl Roadkill", dass diese ökonomischen Fragen natürlich auch im Vordergrund stehen irgendwo. Das heißt, man hat bei einem Text, der überhaupt nichts einspielt und den keiner kauft, da werden Sie nur schwerlich Plagiatsvorwürfe finden, weil es sich einfach nicht rentiert, sondern Ökonomie spielt im Grunde da eine Rolle, wo ich sage, ich kann meine Persönlichkeit zu Geld machen, und niemand anders darf meine Persönlichkeit zu Geld machen.

Pokatzky: Wann beginnt im Internet denn das Urheberrecht, wann können wir einfordern und sagen, ich habe ein eigenständiges schöpferisches Werk abgeleistet, könnte das nicht auch durch einen wirklich sehr pointierten geistreichen Kommentar bei Chatten im Internet sein, und ich kann dann verlangen, das ist meine geistige Schöpfung?

Theisohn: Also, da täuschen sich viele Leute. Also viele Leute denken – das ist auch was, was ich bei Frau Hegemann ein bisschen naiv finde –, dieses na ja, Webkultur heißt im Grunde Copy-Paste und heißt im Grunde, es gibt kein Eigentum. Tatsächlich ist es nun so, dass also im Grunde alles, was ich im Netz schreibe, ist urheberrechtlich geschützt.

Pokatzky: Also auch Kommentare beim Chatten?

Theisohn: Ja, ist so. Ist natürlich wie bei allen Sachen, wenn es um Plagiatsfragen geht, man müsste mal den Fall zunächst mal konstruieren, also derjenige musste den Nachweis führen, ich bin der Erste, der diese Formulierung im Netz publiziert hat, an irgendeiner Stelle, ich habe hier im Grunde den Beleg dafür, und jemand anders nimmt das. Und dann halt immer die Frage: Was ist das wert? Also das sind alles Abhängigkeitsgeschichten. Grundsätzlich muss man aber sagen, ich bin im Netz geschützt, auch im Netz gibt es ein Urheberrecht, und das gilt nicht nur für das Downloaden von Musikdateien oder Filmen, sondern das gilt auch für Text.

Pokatzky: Und das entscheiden dann im Zweifelsfall die Gerichte. Herzlichen Dank an den Züricher Literaturwissenschaftler Philipp Theison. Sein Buch "Plagiat: Eine unoriginelle Literaturgeschichte" ist erschienen im Alfred Kröner Verlag mit 577 Seiten und kostet 26,90 Euro.
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