Theaterzug im Kohlerevier

Die Güterwaggons werden zur Bühne

05:10 Minuten
Schauspielerin Margarita Wiesner vor dem Theaterzug
Geschichten aus Braunkohlegebieten per Zug zurück in die Regionen: Schauspielerin Margarita Wiesner ist mit dabei. © Bastian Brandau
Von Bastian Brandau · 05.08.2021
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Die Künstlergruppe "Das Letzte Kleinod" reist mit einem Kohlezug durch Deutschland. In früheren Braunkohlerevieren werden Geschichten vom Bergbau und vom Wandel szenisch umgesetzt.Die Truppe ist für ungewöhnliche Spielorte bekannt.  
Schwarzer Staub steigt auf, wenn der Tagebau-Betriebsleiter das Metallgitter über den Boden eines Kohlewaggons schiebt. Der Waggon ist die Bühne im Theaterstück 'Kohlezug'. Die Metallgitter stehen für Fahrzeuge und Grenzverläufe im Helmstedter Braunkohle-Revier. In der Szene, die gerade geprobt wird, stehen sich die Betriebsleitungen aus Ost und West gegenüber – dazwischen die deutsch-deutsche Grenze, die durch ihr Revier verlief.
Es wird diskutiert bei den Proben: "Vor dem Bagger stand die Volkspolizei, mit Maschinengewehren, mit Hunden."
"Nee, so war das nicht. Das waren ganz normale Sicherheitsleute. Sonst durfte da keiner hin. Weil das ja dicht an der Grenze war."
Wenige Kilometer von der ehemaligen innerdeutschen Grenze entfernt steht jetzt ein blauer Theaterzug mitten im Grünen. Der 130 Meter lange Personenzug sei sein Baby, sagt Jens-Werner Siemssen. Seit Jahren inszeniert seine vor 30 Jahren gegründete Künstlergruppe "Das letzte Kleinod" in und um den ausgebauten Zug. In diesem Jahr haben sie fünf offene Güterwagen an die Personenwagen gehängt.
"Die Zuschauer werden von Wagen zu Wagen geführt und erleben ein Stück Braunkohletagebau", sagt Siemssen. "Die Kultur, die Arbeitswelt, die Gefahren, das Material, Sie stapfen also auch tatsächlich durch Kohle, weil in diesen Schüttgutwagen tatsächlich noch eine Neige Kohle vorhanden war. Das heißt: Wo man rauskommt, wird man kohlenschwarze Hände haben und etwas erfahren haben über den Braunkohlentagebau und den Zusammenhang mit dem Klimawandel."

Geschichten zum Anfassen

2019 haben Siemssen und sein Team begonnen, ehemalige und aktive Braunkohlegebiete zu besuchen. Sie sprachen mit Betriebsleitern und ehemaligen Baggerfahren über die Arbeit, die Gefahren. Die gesammelten Geschichten bringt der Theaterzug jetzt zurück in die Kohleregionen, an insgesamt acht Orte.
"Wir stehen am Rande eines Tagebaulochs und das ist natürlich bewusst so gewählt", sagt Siemssen. Die Betreibergesellschaft hat der Theatertruppe die Gleisinfrastruktur zur Verfügung gestellt. "Das sind tatsächlich Gleise, auf denen früher Kohlewaggons beziehungsweise auch Kalkzüge gefahren wurden, um den Bergbau damit zu versorgen."
Margarita Wiesner in einem leeren Güterwaggon.
Ein Stück Braunkohletagebau erleben: Margarita Wiesner im Güterwaggon.© Bastian Brandau
Das Idyll beim Blick aus Siemssens Fenster trügt, denn das Betreten des mittlerweile ergrünten Tagebaugeländes hinter dem Zug ist verboten. Das Gebiet ist noch nicht abgesichert. Deshalb wird ein Schienenbus die Zuschauer vom Bahnhof des Nachbarorts die etwa vier Kilometer zur Vorstellung bringen.

Proben bei jedem Wetter

Margarita Wiesner, die in klobigen, beigen Arbeitsklamotten die Klappenschlägerin spielt, ist schon seit ein paar Jahren mit dem Theaterzug unterwegs. Sie liebt diese besondere Bühne. "Hier probt man auch einfach wirklich direkt draußen bei Regen, bei Wind, bei Wetter, egal oder eben bei Hitze. Und das ist schon sehr besonders, dass man sich die Dinge nicht alle vorstellen muss. Wir recherchieren vorher oder gehen unmittelbar an die Orte, sprechen mit diesen Leuten, und das ist tatsächlich wie ein Geschenk."
Während das Ensemble probt, arbeitet auch der Rest des Teams an den letzten Vorbereitungen für die Premiere: Vor dem Werkstattwagen wartet ein rostiger Spind auf seinen Einsatz als Requisite. Im Wagen selbst werkelt die Technik-Crew an den Zuschauerpodesten, die in die Güterwaggons eingepasst werden.

Kleiner Luxus bei den Proben

Wiesner verlässt die Bühne, geht am Zug entlang zu den Schlafwagen, in dem die Theatercrew während der Tournee übernachtet. Seit diesem Jahr sind die Kabinen mit eigenem Waschbecken ausgestattet. "Am Anfang gab es einen Waggon ohne Kammern", erzählt sie. "Da wurde Gemeinschaft oder gemeinsam in einem Waggon geschlafen, und es gab kein Bad und keine Toilette. Das wurde irgendwie anders gelöst, und mittlerweile ist es einfach wirklich luxuriös."
Waggons des Theaterzuges mit Liegestühlen an Bahngleisen und Wald
Bescheidener Luxus: Anfangs gab es im Theaterzug weder Bad noch Toilette.© Bastian Brandau
Auf einen weiteren Luxus weisen trocknende Badeklamotten hin. Wie überall in ehemaligen Kohlerevieren sind auch bei Helmstedt künstliche Seen entstanden. "Den See direkt gegenüber zu haben und sozusagen direkt nach der Probe in den See zu fallen, ist eigentlich der größte Luxus."

Nach dem Auftakt in Helmstedt wird der Kohlezug in Frankfurt (Oder), Cottbus, Senftenberg, Gräfenhainichen, Merseburg und Zeitz Station machen. Letzter Spielort ist Anfang September der Heimatbahnhof der Theatergruppe "Das letzte Kleinod" Geestenseth bei Bremerhaven.

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