Theatertreffen der Jugend in Berlin

Melvilles Bartleby in der Chefetage

Das Haus der Berliner Festspiele in Berlin-Charlottenburg im Abendlicht.
Das Haus der Berliner Festspiele in Charlottenburg © imago stock&people
Von Gerd Brendel · 10.06.2017
Acht Inszenierungen von Jugend-Ensembles aus Deutschland haben es zum Theatertreffen der Jugend nach Berlin geschafft - aus Großstädten ebenso wie aus der tiefsten Provinz. Und natürlich sind es Stücke, in denen die Schüler den Alltag spiegeln.
"Ich bin zufrieden mit meinem Körper!", ...
...liest eine Stimme aus dem Off. Aus der Reihe kommen zögernd zwei Jungen und ein Mädchen nach vor.
"Ich habe meine Eltern angelogen!", ...
...da sind es schon mehr.
- "Ich manipuliere Erwachsene."
- "Ich habe ein Tier getötet."
- "Ich habe ein Säugetier getötet."
- "Ich bin verliebt."
- "Ich habe Angst, dass meine Bewerbungen abgelehnt werden."
- "Ich habe schon andere Drogen außer Alkohol ausprobiert."
Zu jeder Aussage gruppieren sich die Jugendlichen neu. Mal stehen zwei, mal drei, mal das halbe Ensemble an der Bühnenrampe. So denken sie also, junge Menschen in Cottbus. Zur Aussage: "Ich habe mindestens einmal gelogen" kommen alle nach vorne.
"Sag alles ab" lautet der Titel der Produktion des Cottbusser Jugendtheaterclubs Picollo. Die Bühne wird zum Schutzraum vor den Erwartungen der Eltern, der Lehrer, der ganzen Erwachsenenwelt mit ihren "Mach dies, mach das!".
"Optimierung! Kontrollieren! Erster sein, schneller sein! Wachse, wachse!"
Theater als Ort der Verweigerung. Davon erzählt die Produktion des Komma Theaters aus Duisburg, das Herman Melvilles Helden des "Rather Not"-Bartleby in die Chefetage eines modernen Unternehmens verpflanzen.
Eine Frau betritt die Bühne.
"Danke! Nochmal..."

Spannende Stücke über Freiheit und Freiräume

Um die Weigerung junger Frauen, übergriffige Machos und Durchschnittsmänner im Alltag weiterhin zu dulden, dreht sich das Stück "Stören" vom Berliner Maxim Gorki Theater.
- "Sex-Attacken... Wurde viel berichtet. Ist das so?"
- "Nee... keine Ahnung… Ja, manchmal ja... Ja! Sogar jeden Tag... Was für ein blinder Fleck für uns... Der Typ, der mich Bus angegrapscht..."
- "Was ist wichtig? Ich bin wichtig!"
Das gilt für alle Darsteller und Darstellerinnen auf der Bühne des Theatertreffen der Jugend, egal von wo sie angereist sind: Aus der Großstadt oder der tiefsten Provinz. In allen acht Produktionen geht es in aller Linie um ihre Freiräume, um ihr Leben. Und genau das macht die gezeigten Stücke so spannend.
"...weil Theater an der Stelle erfunden wird und nicht reproduziert wird. Das ist die große Besonderheit des Jugendtheaters", sagt Carmen Grünwald-Waag, langjähriges Jury-Mitglied und selbst Theatermacherin.
"Mich interessiert am Theater der jungen Menschen, welche Mission die haben, was wollen die über die Welt erzählen, was wollen die über sich erzählen, und wie erzählen sie das."

Das Publikum applaudiert wie im Rausch

In der Wahl der Mittel lässt sich oft die Handschrift der Erwachsenen im Hintergrund erkennen, die sich am liebsten "Spielleiter" statt Regisseur nennen. Der Cottbusser Abend macht deutliche Anleihen beim Dokumentar-Theater. "Katzelmacher" vom Jugendtheaterclub Hannover bedient sich kräftig bei Susanne Kennedys Verfremdungsstil mit starr geschminkten Darstellern und Dialogen vom Band.
Eine ganz andere Ausdrucksform bringt die Theatergruppe "Wunderbar" vom Stadttheater Minden auf die Bühne. Am Anfang sitzen die jungen Männer und eine Frau am Bühnenrand. Aus dem Off hört man ihre Namen, ihre Träume. Fast alle kommen aus Afghanistan.
"Ich kann was machen, dass andere Leute lachen, das gefällt mir..."
...und dann mit einem Mal greifen alle in die Hosentaschen und verwandeln sich mit Clownsnasen von Deutsch radebrechenden Flüchtlingen zu poetischen Erzählern ihrer selbst. Keine drei Wörter sprechen Emal, Monika, Pirooz und die anderen auf der Bühne, aber so wie sie ihren Alltag spielen, vom Warten in Ämtern, vor Clubs, im Heim oder im Schwimmbad als badende Teenagerinnen, das rührt zutiefst auch noch Tage nach der Aufführung zu Tränen.
"Und es geschah und das war alles. Und es passierte... Was denn sonst."
Es passierte nichts weniger als ein Theatertraum. Das Publikum, die angereisten Theaterpädagogen, all die Schüler aus Cottbus, Groß-Bieberau und Freiburg und selbst die coolen jungen Berliner Deutschtürkinnen vom Maxim Gorki Theater wollten nicht aufhören zu applaudieren, begeistert wie im Rausch.
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