Theatermacher Abderhalden

Feier und Gewalt sind in Kolumbien eng verbunden

Heidi und Rolf Abderhalden
Heidi und Rolf Abderhalden © imago/ZUMA Press
Von Tobias Wenzel · 28.08.2018
Die Theatermacher Heidi und Rolf Abderhalden erhalten in diesem Jahr in Weimar die Goethe-Medaille - für ihr Theaterstück "Los incontados" über den bewaffneten Konflikt in ihrem Land Kolumbien.
Eine Party ist außer Kontrolle geraten. Menschen rennen hektisch durch die Gegend. Luftballons platzen. Oder sind es doch Schüsse oder Explosionen? Das fragt man sich, wenn man das Theaterstück "Los incontados" ('Die Nichterzählten') im Mapa Teatro im Zentrum Bogotás sieht.
Die Geschwister Heidi und Rolf Abderhalden haben es entwickelt und inszeniert. Heidi Abderhalden steht außerdem als Schauspielerin auf der Bühne. Es ist der dritte von vier Teilen einer, wie sie es nennen, "Anatomie der Gewalt".
Zehn Jahre haben beide zusammen mit ihrem Theaterkollektiv daran gearbeitet, erzählt Rolf Abderhalden: "In Kolumbien ist die Feier eng mit der Gewalt verbunden gewesen. Das klingt natürlich erst mal nach einem Paradox. In diesem Land haben aber die am bewaffneten Konflikt beteiligten Parteien, besonders die Guerilla, die Paramilitärs und die Drogenhändler, aber auch gewisse Staatsbedienstete die Feier als Dispositiv benutzt, um gegen die Zivilbevölkerung Gewalt anzuwenden. Schließlich befinden sich die Bürger, wenn sie feiern, in einem verletzlichen Zustand, perfekt geeignet, um diese Menschen anzugreifen, zu vergewaltigen, zu entführen, zu ermorden."
220.000 Menschen sind im bewaffneten Konflikt Kolumbiens gestorben, Millionen sind im eigenen Land vertrieben worden. Seit 2016 herrscht offiziell Frieden. Aber die Gewalt geht, wenn auch im kleineren Rahmen, weiter. Menschenrechtler und Gewerkschafter sind zuletzt vermehrt ermordet worden.

Gewalt als Motiv der kolumbianischen Kunst

"Nicht nur im Theater, sondern in der kolumbianischen Kunst überhaupt ist die Gewalt das große Thema und auch die damit verbundene Verletzlichkeit des Lebens. Im Theater ist es aber schwer, von der kolumbianischen Gewalt zu erzählen. Wir Theatermacher sind nämlich so emotional mit dem Thema verbunden, dass das Stück schnell zu pathetisch, zu moralisch oder zu sentimental wird."
Deshalb setzen Heidi und Rolf Abderhalden in ihrem international renommierten Theater unter anderem auf Poesie und Überraschung. Mitte der 80er-Jahre machten Heidi und Rolf Abderhalden, Kinder eines in Kolumbien lebenden Schweizers, Theater in einem Gefängnis und in leer stehenden Häusern in Bogotá. Während andere kolumbianische Regisseure althergebrachtes, verstaubtes Sprechtheater inszenierten, suchten die Abderhalden-Geschwister nach neuen Formen und wurden immer interdisziplinärer.
Mittlerweile unterrichten die Geschwister an der Universidad Nacional in Bogotá einen interdisziplinären Studiengang, in dem darstellende und bildende Künste aufeinandertreffen: Daniela Bright gibt Einblick in den Stand ihrer praktischen Masterarbeit, die Rolf Abderhalden betreut. Die Studentin will die Kohlemine ihres Großvaters in einer audiovisuellen Ausstellung rekonstruieren und präsentieren. Eine Arbeit zwischen Architektur, Videokunst und Performance.

Archiv eines dem Tod geweihten Lebens

Die norwegisch-kolumbianische Schauspielerin Agnes Brekke, selbst Mitglied des Kollektivs Mapa Teatro, hat, betreut von Heidi Abderhalden, den Kehlkopfkrebs eines Familienmitglieds zum Anlass genommen, um in ihrer praktischen Abschlussarbeit über die lautliche Kommunikation an sich nachzudenken und über die Frage, inwiefern man ein Leben, das dem Tod geweiht ist, archivieren kann. Brekke selbst ist Teil ihres Theaterarrangements, ebenso wie einige Darsteller mit Vogelköpfen und in Overalls, die Kabel verlegen, während Morsezeichen und Stimmen von Kehlkopfkrebspatienten erklingen.
Heidi und Rolf Abderhalden und andere Dozenten geben kurz darauf der Studentin Tipps zur Perfektionierung ihrer Performance. Ein einzigartiger Studiengang in Kolumbien. Zwar kennen Heidi und Rolf Abderhalden sehr genau das dokumentarische Theater. Längst erzählen in einigen Theatern des Landes auch Opfer des kolumbianischen bewaffneten Konflikts als Laiendarsteller ihre eigenen Geschichten.

Die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion

Aber das Geschwister-Duo hat sich ganz bewusst gegen diese Form entschieden, wie Rolf Abderhalden erklärt: "Für uns Kolumbianer ist das eine recht schwer zu verstehende und schwer anzunehmende Kategorie. Kolumbianer haben nämlich große Probleme damit, Grenzen zwischen der Wirklichkeit, dem Möglichen, der Fiktion und dem Dokument zu ziehen. In diesem Land tauchen immer wieder gefälschte Dokumente auf und verschwinden plötzlich, um dann durch scheinbar echte Dokumente ersetzt zu werden, die es dann doch nicht sind. Die Kategorie des dokumentarischen Theaters würden wir uns also nicht zu eigen machen."
Für ihre kreative Theaterarbeit und den damit verbundenen Beitrag zum internationalen Kulturaustausch werden Heidi und Rolf Abderhalden nun ausgezeichnet.
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