Theater in den Zehnerjahren

Inszenierungen für die Digital Natives

07:58 Minuten
"Woman in Trouble", ein Theaterstück von Susanne Kennedy an der Volksbühne Berlin mit (von links) Marie Groothof, Anna Maria Sturm, Niels Kuiters, Suzan Boogaert. Die Premiere war am 30. November 2017.
"Geschlossene Installation aus feministischer Sicht" - Matthias Lilienthal über den innovativen Beitrag von Susanne Kennedy zum Theater der Zehnerjahre (Szene aus "Woman in Trouble" von 2017 an der Berliner Volksbühne). © picture alliance / Eventpress Hoensch
Matthias Lilienthal im Gespräch mit Axel Rahmlow · 30.12.2019
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Migration, Teilhabe und Repräsentation waren Debattenthemen der vergangenen Dekade an deutschen Bühnen, sagt Matthias Lilienthal, Intendant der Münchner Kammerspiele. Prägend fand er aber auch "die sehr eigene Welt" der Inszenierungen von Susanne Kennedy.
Axel Rahmlow: Matthias Lilienthal war vor zehn Jahren künstlerischer Leiter am Berliner Theater "Hebbel am Ufer", und das war seine Prognose:
"Ich glaube schon, dass es wieder einen Tick mehr um Kunst geht, einen Tick mehr um Formen. Das andere, was eine Riesen-Rolle spielen wird, ist, dass diese Einteilung in Theater, Kino, bildende Kunst einfach keinen Sinn mehr macht, dass sich die Formate von Kunst auflösen werden. Das wird ein großes Thema werden. Und Migration bleibt natürlich auch als Thema."
Rahmlow: Zehn Jahre später ist Matthias Lilienthal Intendant der Münchner Kammerspiele – in diesem Jahr von der Zeitschrift Theater heute zum Theater des Jahres gewählt worden. Wie bewerten Sie Ihre eigenen Fähigkeiten als Orakel?
Lilienthal: Schlecht, ganz erbärmlich schlecht. Das, was ich gesagt habe, dass Form eine größere Rolle spielen würde, ist überhaupt nicht eingetreten. Wir kommen aus einem Jahrzehnt, wo Identitätspolitik neu verhandelt wurde, wo eigentlich das Ende das männlichen, weißen, alten Regisseurs gekommen ist. Insofern sind viele aufregende Sachen passiert, die ich nicht vorhergesehen habe. Die zweite Hälfte, dass das Thema Migration bleibt, das stimmte. Und das andere war Quatsch.

Die Frage der People of Colour ist dazugekommen

Rahmlow: Dann bleiben wir erst mal bei dem, was gestimmt hat, bleiben wir erst mal bei der Migration. Gibt es da etwas, an dem Sie das festmachen, wie es das für die vergangenen zehn Jahre geprägt hat?
Lilienthal: Der Weg, den Shermin Langhoff vom HAU aus übers Ballhaus mit dem Maxim-Gorki-Theater genommen hat, hat natürlich wesentliche Entwicklungen beeinflusst. Zu der Frage der türkischen Community in Berlin ist die Frage von People of Colour sehr deutlich dazu gekommen. Es gibt ja ein Hinüberwachsen dieser Frage von PoC hin zur Frage von Queer-Sein, das definiert natürlich die Frage von Teilhabe am Theater vollständig neu.

Vitale Identitätsbilder gegen den Populismus

Rahmlow: Shermin Langhoff ist mittlerweile Intendantin hier am Berliner Gorki-Theater. Gibt es auch jemanden, wo Sie sagen, der- oder diejenige hat Regie geprägt für dieses Jahrzehnt?
Lilienthal: Das ist Yael Ronen am Gorki-Theater mit ihren thematisch beeinflussten Inszenierungen über Realitätsmenschen, die aber vielleicht im letzten Jahrzehnt noch stärker von Rimini Protokoll beeinflusst waren und jetzt bei Yael Ronen eigentlich so einen Weg ins Theater zurückgefunden haben. Es ist die sehr eigene Welt von Susanne Kennedy, die nietzscheanische geschlossene Installation aus feministischer Sicht formuliert, und vielleicht die Nachfolge von Pina Bausch angetreten hat, indem sie eine sehr eigene Welt auf die Bühne wuchtet. Der dritte ist vielleicht auch Ersan Mondtag mit seinem Bildertheater. Was natürlich Kennedy, Mondtag und Ronen gemeinsam haben, ist, dass sie eigentlich sagen, in einem Zeitalter von Populismus und Fake News hat es keinen Sinn zu argumentieren, sondern sie setzen dieser populistischen Politik von Trump oder von der AfD sehr vitale Identitätsbilder entgegen.
Rahmlow: Gerade bei Kennedy kann man ja aber auch sagen, sie benutzt zum Beispiel sehr viel Masken, sie benutzt sehr viel Playback – sie ist ja dafür auch oft kritisiert worden, weil es so indirekt ist, weil es so schwer zu verstehen ist. Hat dieses Theater tatsächlich ein bisschen die Überhand dann genommen?
Lilienthal: Ja, aber das Theater, was die Standards von Avantgarde gesetzt hat, war immer kompliziert zu verstehen. Ich glaube, für Bildungsbürger ist Kennedy schwer zu verstehen. Mein Sohn, der seine ganze Jugend vor der Computerkonsole zugebracht hat, findet die Benutzerflächen in einer Kennedy-Inszenierung sofort. Es ist natürlich auch ein Theater für Digital Natives, das auf eine komische Art und Weise künstliche Intelligenz mit dem uralten Orakel aus Delphi verbindet. Genau aus dieser Reibung lebt das Theater von Susanne Kennedy.

Debatte um Repräsentation ist zum "Tatort" geschwappt

Rahmlow: Ersan Mondtag, den Sie gerade erwähnt haben, ist einer der wenigen Regisseure, der aus einer Gastarbeiterfamilie kommt. Hat sich die deutsche Theaterlandschaft in den letzten zehn Jahren etwas diversifizieren können?
Lilienthal: Ich finde schon. Wir haben bei dem letzten Gespräch vor zehn Jahren geredet über Rimini Protokoll, über Stefan Pucher und Nikolas Stemann. Wir reden jetzt über zwei Frauen und einen jungen Migranten. In dem Moment, wo jetzt Julia Wissert das Theater in Dortmund übernimmt, in dem Moment, wo das Theatertreffen eine Frauenquote von 50 Prozent einführt, da passiert an den Theatern was. München hat ja ganz zentral die Frage von People of Colour über die Arbeit von Anta Helena Recke mit reingenommen und ist zu einem Schwerpunkt der gedanklichen Auseinandersetzung damit geworden. Genau so wie inzwischen auch viele Berliner Theater Menschen mit migrantischem Hintergrund in ihrem Ensemble haben. Der "Tatort" und der "Polizeiruf", da ist die Entwicklung rübergeschwappt: Die zählen ja inzwischen auch, wie viele Frauen tauchen in ihrem Krimi auf, wie viele Frauen sind Opfer, wie viele Männer sind Opfer, und wie erzählt man die Geschichten? Also die Frage von Repräsentation aus dem Theater ist in die anderen Medien mit rübergerutscht.
Rahmlow: Ist das Theater jetzt schon gleichberechtigt? Es gibt ja zum Beispiel diesen Verein "Pro Quote Bühne", der argumentiert, da ist noch sehr viel zu tun?
Lilienthal: Theater ist nicht gleichberechtigt. Wenn man dann sich die Anzahl von Intendanten und Intendantinnen anguckt, dann ist das ganz weit von einer Gleichberechtigung entfernt. Die Kammerspiele haben jetzt in dieser Spielzeit 45 Prozent weibliche Regisseure, und dieser Anteil von Regisseurinnen ist eher ungewöhnlich. Das Schauspiel Hannover mit der Sonja Anders profiliert sich ja da sehr deutlich in der Frage und rückt die Arbeit von Frauen sehr nach vorn. Insofern hat sich da was getan.

Förderung der freien Szene ist "vermüllt"

Rahmlow: Wie blicken Sie auf die Entwicklung zwischen der freien Theaterszene und den Theatern? Kann man diese Unterscheidung überhaupt noch machen? Wie hat sich das Zusammensein entwickelt?
Lilienthal: Die Grenzen sind sehr viel durchlässiger geworden. She She Pop, Gob Squad, Rimini Protokoll kümmern sich eigentlich gar nicht mehr darum, ob das jetzt gerade ein Produktionshaus ist, ob es ein Festival ist oder ob es ein Stadttheater ist, an dem sie arbeiten. Sie picken sich die besten Produktionsbedingungen raus und dann machen sie die Projekte, die sie dafür denken können. Anfang der Nuller-Jahre gab es hier in Berlin einen sehr großen Aufbruch einer neuen Szene, was zustande gekommen ist durch die Förderung von Hauptstadtkulturfonds und Kulturstiftung des Bundes.
Da sind natürlich jetzt viele Anwartschaften entstanden von Gruppen, die zu Recht gute Arbeit machen, aber die Förderung ist auch ein bisschen vermüllt von den Alten wie mir, und die Jungen haben es jetzt im Moment extrem schwer, reinzukommen. Das wäre ein großer Wunsch an die Politik, da zusätzliche Fördertöpfe aufzulegen oder die existierenden Fördertöpfe durchlässiger zu machen.
Rahmlow: Darüber könnten wir dann in zehn Jahren reden.
Lilienthal: Ja, wenn es mich dann noch gibt, können wir darüber reden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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