Theater

Das ist der Mensch!

Sohel Altan G. (Woyzeck) und Magdalena Wiedenhofer (Marie) küssen sich auf der Bühne in der "Woyzeck"-Inszenierung am Münchner Volkstheater.
Sohel Altan G. (Woyzeck) und Magdalena Wiedenhofer (Marie) in der "Woyzeck"-Inszenierung am Münchner Volkstheater. © Gabriela Neeb
Von Christoph Leipold · 23.10.2014
Schon unzählige Male kam Büchners Woyzeck auf die Bühne. Am Münchner Volkstheater hat der Regisseur Abdullah Kenan Karaca den Stoff völlig neu zusammengesetzt. Die kühne Inszenierung folgt der Frage: Was ist der Mensch?
Karaca macht sich Büchners Blick zu eigen, der nicht nur der eines Dramatikers, sondern auch eines Mediziners und Naturwissenschaftlers war, und lässt sich von der Frage leiten: Was ist das - der Mensch? Dazu legt er den Text gewissermaßen auf den Seziertisch. "Woyzeck" ist zwar ohnehin Fragment. Basierend auf Büchners Handschriften aber hat sich eine Szenenfolge eingebürgert, der die meisten Inszenierungen mehr oder minder folgen.
Karaca jedoch gehört zu denjenigen Regisseuren, die die Nähte wieder auftrennen, um ihre eigenes Szenenpatchwork zusammenzufügen. Das ist ein Wagnis, aber auch Vorrausetzung, eine neue Perspektive zu gewinnen.
Woyzeck muss vorturnen und Rotwein auflecken
Der Doktor, der Hauptmann und die meisten anderen Figuren haben vorne an einem schmucklosen, langen Tisch Platz genommen, der noch von der Leseprobe übriggeblieben sein könnte. Rotweinflaschen und Aschenbecher stehen darauf. Es rauchen die Schauspieler, es rauchen ihre Köpfe, während sie Woyzeck fokussieren. Wie eine Gruppe – allerdings maximal gefühlskalter – Wissenschaftler stehen sie um ihn herum, sprechen (in einem Mix von Sätzen verschiedener Figuren aus verschiedenen Szenen) über ihn und über seinen Kopf hinweg; lassen ihn, den sie Bestie nennen, Übungen vorführen, erst Klimmzüge, später muss Woyzeck halb nackt Rotwein vom Boden auflecken.
Und während sie so über sein – vermeintlich einfältiges – Naturell debattieren, tritt ihre eigene Unnatur zu Tage. Auch das ist der Mensch: ein Unmensch, der andere zu Untermenschen degradiert.
Abdullah Kenan Karacas Inszenierung lässt eine durchaus ambitionierte Auseinandersetzung mit Büchners "Woyzeck" erkennen. Oft aber scheint es, als hätte sich der junge Regisseur bei seiner Stückerkundung vom Forscherdrang eines Kindes mitreißen lassen, das mit ungebremster Neugier Insekten zerpflückt, nur um dann vor einem Haufen von Fliegenbeinen und Fühlern zu hocken, mit denen es nichts mehr recht anzufangen weiß.
Mischung mit Fragmenten von Büchners "Lenz"
So wirkt die Aufführung unorganisch, krude neu montiert. Was zudem dadurch verstärkt wird, dass Karaca und sein Dramaturg David Heiligers stückfremde Texte eingebaut haben. Handelt es sich dabei um Passagen aus Büchners "Lenz", geht das halbwegs gut; manch selbsthinzugedichteter, dem Doktor in den Mund gelegter Satz hingegen stinkt ziemlich banal-deutsch gegenüber Büchners expressiver Kunstsprache ab.
Solcher Flickschusterei stehen aber auch gelungene szenische Neukompositionen gegenüber, etwa wenn Karaca und Heiligers zwei Szenen ineinander verschränken, die sonst üblicherweise nacheinander gespielt werden: Vorne rasiert Woyzeck seinen Hauptmann, hinten (in wild zerklüfteter Felsenkulisse, die so etwas wie die unbezwingbare Natur zu symbolisieren scheint, die auch im Menschen steckt) macht sich der Tambourmajor über Marie her. Woyzeck: der Hintergangene.
Glaubhafter Hauptdarsteller
Wenn ihn eben jener Tambourmajor später auch noch bepisst und bespuckt, landet die Inszenierung schlussendlich doch beim Sozialdrama. Mit Sohel Altan G. in der Titelrolle hat sie einen Hauptdarsteller, der es durchaus beglaubigen kann. Er ist ein zunächst eher sanft entrückter Woyzeck, ehe fortgesetzte Demütigungen seine prekäre Existenz aus dem Gleichgewicht bringen und seine moralischen Maßstäbe verrücken, bis er selbst wie verrückt zur Wahnsinnstat schreitet, dem Mord an Marie.
Mit Altan G. wäre die eher klassische Lesart des Stücks als Tragödie eines Erniedrigten und Beleidigten, der aus Ohnmacht zum Mörder wird, durchaus zu haben gewesen. Was weniger originell, aber allemal organischer gewesen wäre.
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