"The Harry Smith B-Sides"

Was neben dem Kanon übrig blieb

08:14 Minuten
Joan Baez und Bob Dylan
Die "Anthology" von Harry Smith hat unter anderem Joan Baez und Bob Dylan inspiriert. © imago images / Everett Collection
Fabian Wolff im Gespräch mit Carsten Beyer · 28.10.2020
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Harry Smith hat 1952 mit seiner "Anthology" den Kanon für US-Folk-Musik geschaffen. Eine neue Box widmet sich den Liedern, die es damals nicht in die Sammlung geschafft haben. Drei Songs wurden nun auch wegen rassistischer Texte weggelassen.
Wenn es von einem Album heißt, es hätte die Welt verändert, dann ist das in den meisten Fällen eine Übertreibung. Anders ist dies bei der von Harry Smith 1952 zusammengestellten "Anthology of American Folk Music". Die dort enthaltenen sechs LPs waren die Grundlage für das Folk-Revival und führten Bob Dylan und Joan Baez an Songs heran, aus denen später Hymnen der Bürgerrechtsbewegung wurden. Außerdem wurden Schwarze Blues-Künstler wie Blind Lemon Jefferson und Blind Willie Johnson so dem Vergessen entrissen.
Trotzdem ist auch ein kanonisches Werk wie die "Anthology" nicht vom Himmel gefallen. Das macht das neue Boxset "The Harry Smith B-Sides" deutlich. Alle B-Seiten der Schellackplatten, die damals Smith in seine Sammlung aufnahm. Beziehungsweise fast alle, denn die Produzenten haben sich im letzten Augenblick dafür entschieden, drei Songs mit rassistischen Texten nicht aufzunehmen.

Eine Vision für Amerika

Carsten Beyer: Beginnen wir mit dem Mythos. Warum ist die "Anthology of American Folk Music" so ein legendäres Objekt?
Fabian Wolff: Da ist die etwas großspurige Behauptung des Titels, der sehr offiziell und definitiv klingt, aber eigentlich ein sehr exzentrisches Produkt und eine sehr persönliche Vision beschreibt. Harry Smith war kein klassischer Musikologe, sondern ein verschrobener Sammler, Proto-Beatnik und Okkultist, der die Songs nach ganz bestimmten, fast geheimen Prinzipien arrangiert hat.
Dem zugrunde lag eine bestimmte Idee von Amerika - Schwarz und Weiß stehen nebeneinander und miteinander, die gemeinsamen Ursprünge von Folk, Blues, Gospel, Country und Fiddle-Songs aus den Appalachen sollten dargelegt werden. Die Stories, die diese Songs oft erzählen, sollten als amerikanischen Mythenschatz etabliert werden.

Kein lückenloses Werk

Beyer: Dafür griff der Sammler Harry Smith auf Schellackplatten aus seinem Privatarchiv zurück. Nun versammelt die Box "The Harry Smith B-Sides" die Songs, die auf den Rückseiten dieser Platten zu hören waren. Soll der Kanon erweitert oder sogar korrigiert werden?
Wolff: Die "Anthology" selbst weißt schon Lücken auf: Die primäre Sprache ist Englisch, aber natürlich gibt es auch – gerade an der Grenze zu Mexiko – viel spanischsprachige Musik. Diese Lücken kann die Anthology nicht füllen, schließlich muss sie mit dem Material arbeiten, das Smith selbst benutzt hat.
Die Sammlung "The Harry Smith B-Sides" ist damit eine Erweiterung zur ursprünglichen Anthologie: Wenn diese Songs, also die auf den A-Seiten, so groß sind, dass sie mehrere Generationen fesseln, dann müssen die B-Seiten es doch auch wenigstens wert sein, gehört zu werden.
Gleichzeitig machen die B-Seiten indirekt etwas anderes deutlich: Sie zeigen, wie fragil und willkürlich so ein Kanon ist. Wenn es nicht nur Qualität, sondern auch Tradierung und Zugänglichkeit sind, die ihn bestimmen.

Vier Sekunden Stille statt rassistischer Texte

Beyer: Dann sprechen wir doch über die Qualität. Wie klingt das Material im Vergleich zur "Anthology"?
Wolff: Die Hoffnung ist aufgegangen. Die Musik ist tatsächlich ganz außerordentlich schön und mitreißend. Im Gegensatz zur "Anthology" sind die Songs nicht thematisch angeordnet. Die Dramaturgie ist zufällig, aber das Durchhören funktioniert sehr gut.
Besonders spannend ist es, die A-Seiten aus der "Anthology" direkt mit den B-Seiten zu verbinden. Die Box ist dabei insgesamt sperriger, zudem fehlen drei Songs. Statt ihnen sind nur vier Sekunden Stille zu hören, weil sie wegen rassistischer Texte von der Box gestrichen wurden.

Das Label hat noch nie rassistische Songs veröffentlicht

Beyer: Diese Entscheidung wird gerade kontrovers diskutiert. Was sind die Positionen und was halten Sie von der Entscheidung?
Wolff: Drei Songs haben rassistische Texte. In einem fällt das N-Wort, in den zwei anderen geht es um das Aufhängen von Schwarzen. Die Entscheidung wurde von den weißen Besitzern des Labels Dust-to-Digital, im Sommer während der Proteste gegen die Morde an George Floyd und Breonna Taylor getroffen. Die schon gepressten CDs mussten wieder eingestampft werden.
Die Macher begründen das damit, dass ihr Label noch nie Songs mit rassistischen Texten veröffentlicht hat und sie jetzt nicht damit anfangen wollten. Reine kritische Kommentierung hätte für sie nicht ausgereicht. Sie wollen auch, das klingt durch, Schwarze Hörerinnen und Hörer nicht verstoßen. Das ist ehrbar und verständlich und letztlich ist es ihr Label.
Aber es ist eine Entscheidung, die von Weißen für Schwarze getroffen wird. Auch, um sich selbst nicht die Finger schmutzig zu machen. Eventuell wäre eine andere Lösung gefunden worden, wenn zum Beispiel eine schwarze Produzentin an der Box beteiligt gewesen wäre.

Es bleibt die Frage: Wie bildet man Vergangenheit ab?

Beyer: Aber der Konflikt wäre damit nicht gelöst worden.
Wolff: Genau, die Frage bleibt: Bilden wir die Vergangenheit ab? Rassistisch wie sie nämlich war. Rassismus, der sich auch in schönster Musik versteckt? Oder wollen wir aus ihr einen Traum für die Zukunft ziehen, jenseits dieser Kategorien? Die "Anthology" wollte ein Amerika abbilden, bei dem Schwarz und Weiß nebeneinanderstehen, miteinander leben.
Das ist historisch verklärend, aber auch ein starker Traum, der bis in die Bürgerrechtsbewegung der Sechziger reicht. Die "B-Sides" führen ihn fort, indem sie Songs mit rassistischen Texten streichen. Das ist legitim. Aber es wäre auch denkbar, dass sich dieser Traum nur verwirklichen lässt, wenn wir ehrlich darstellen, wie die Vergangenheit aussah.
Die Gesellschaft, aus der die "Anthology" kommt, war rassistisch. Die B-Sides bilden diese Schattenseite nicht ab. Als Labelentscheidung ist das legitim, als historisches Urteil diskutierenswert. Aber es geht ja darum, dass diskutiert wird.
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