"The Dark Ages"

Europa zwischen "existenzieller Obdachlosigkeit" und Heimat

Der Schweizer Theatermacher Milo Rau im Oktober 2012 vor einer Lesung von "Breiviks Erklärung" in Weimar
Vermisst eine "positive Zielvorstellung" von Europa: der Schweizer Theatermacher Milo Rau © dpa / Michael Reichel
Milo Rau im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 10.04.2015
In seinem neuen Stück "The Dark Ages" sucht der Schweizer Regisseur Milo Rau anhand von fünf Biografien nach dem, was Europa trennt und zusammenhält. Die Utopie Europas sollte nicht das Streben nach Wohlstand sein, meint Rau.
Am Samstag hat der zweite Teil der Europa-Trilogie des Schweizer Regisseurs Milo Rau, "The Dark Ages", am Münchner Residenztheater Premiere. Darin erzählen fünf Schauspieler aus Deutschland, Bosnien, Serbien und Russland ihre Lebensgeschichten und machen sich so auf die Suche nach dem, was Europa trennt und zusammenhält.
Die Biografien handelten von zerbrochenen Lebenswelten, von Krieg, von Bürgerkrieg und auch vom Verlust von Heimat und Ideologie, sagte Rau am Freitag im Deutschlandradio Kultur. Dabei werde deutlich, dass in Europa einerseits eine "existenzielle Obdachlosigkeit" herrsche und es andererseits plötzlich ein starkes Festhalten an Heimat gebe.
Noch geht der "Zombie des Nationalismus" um
In der Hinwendung zu Europa drücke sich zwar die Hoffnung aus, dass es keine Kriege und Nationalismen auf dem Kontinent mehr geben sollte. Allerdings gehe der "Zombie des Nationalismus " immer noch um, außerdem fehle es an einer positiven Zielvorstellung über Europa: "Also, was ist denn die Utopie Europas, außer dass alle Wohlstand haben sollen von Athen bis Berlin? Und da gibt es tatsächlich eine Leerstelle, eine Lücke."

Das Interview im Wortlaut:
Liane von Billerbeck: Eine Uraufführung ist zu annoncieren, im Münchener Residenz-Theater am Samstag. Es ist der schon zweite Teil einer Europa-Trilogie des Schweizer Regisseurs Milo Rau. "The Dark Ages" heißt das Stück, und während es im ersten Teil um junge Männer ging, die aus Europa in den Jihad aufbrechen, befasst er sich nun mit der finsteren Seite des sich vereinigenden Europa. Milo Rau, 2014 mit dem Schweizer Theaterpreis ausgezeichnet, hat sich schon immer für die gesellschaftlichen Fragen interessiert, die weh tun. Mit dem Regisseur habe ich vor unserer Sendung gesprochen. Guten Morgen!
Milo Rau: Guten Morgen!
von Billerbeck: Herr Rau, Sie stellen in Ihrem Stück Erinnerungen an den Jugoslawien-Krieg deutschen Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg gegenüber und lassen die Schauspieler auch ihre eigenen Erfahrungen erzählen. Und in einem Trailer zum Stück, den man im Internet sehen kann, da ist die Rede von "Five Stories of Survival", also fünf Geschichten vom Überleben. Ist das der Boden, auf dem Europa steht: Blut, Not, Krieg, das nackte Überleben?
Rau: Ja, ja, also teilweise, also teilweise, denke ich, schon. Das Stück besteht tatsächlich aus fünf Schauspielern aus Deutschland, Bosnien, Serbien und Russland, die ihre Lebensgeschichten erzählen. Das heißt, die erzählen tatsächlich Geschichten von Vertreibung, die Jugoslawen von Krieg, und Herr Zapatka hier aus Deutschland, der ja den Zweiten Weltkrieg noch erlebt hat als Kind, die Bombardements, also das ist tatsächlich ein Hintergrund von zerbrochenen Lebenswelten, von Krieg, von Bürgerkrieg und auch von Verlust von Heimat und von Ideologie. Und das ist eigentlich in dem Teil der Europa-Trilogie meine Frage: Auf welche Fundamente ist Europa eigentlich gebaut? Welche Vergangenheit haben wir, die wir versuchen, jetzt ein Stück weit auch zu leugnen, um in die schöne neue Welt der großen Wohlfahrtssphäre einzutreten.
Das Große im Kleinen spiegeln
von Billerbeck: Was geschieht denn nun mit Menschen, wenn ihr Staat, ihre Überzeugungen zerbrechen, wenn Sie das da Ihre Darsteller auch aus ganz persönlichen Erinnerungen erzählen lassen?
Rau: Ich denke, es geschehen zwei Dinge. Einerseits gibt es so was, was man eine existenzielle Obdachlosigkeit nennen könnte, deshalb auch immer unsere Shakespeare-Zitate, also diese Hamlet-Figur ist für uns wichtig, die zurückkehrt und sagt, ich will wissen, was geschehen ist, ich will Gerechtigkeit, ich will wissen, wie unsere Vergangenheit da aussieht – irgendwas ist faul in diesem Staate Dänemark. Und auf der anderen Seite gibt es, was sehr interessant ist, ein sehr starkes Festhalten an Heimat plötzlich von Leuten, die das verloren haben, die vielleicht vertrieben worden sind, die auch einfach umgezogen sind, wie im Falle einer Schauspielerin, die aus Russland kommt. Also, da gibt es einerseits eine Heimatlosigkeit und ein ganz starkes Suchen nach Heimat, nach Heim. Und in diesem Widerspruch spielen eigentlich die Anekdoten, die die Schauspieler auf eine sehr, sehr einfache Weise auf der Bühne erzählen.
von Billerbeck: Das heißt, Sie setzen auch bei großen Themen auf die Erinnerung im Kleinen, also auch auf Tagebücher, Briefe, Erinnerungen. Warum machen Sie das, um zu beschreiben, woher Europa kommt? Warum glauben Sie so an die Kraft dieser kleinen Erinnerung?
Rau: Ich habe viele Stücke gemacht, mache auch aktuell über die große Geschichte quasi, riesige Projekte, die wir machen. Ich hab aber mit der Europa-Trilogie mir vorgenommen, wirklich zu versuchen, exemplarisch durch verschiedene Schauspielerbiografien zu erzählen, in welcher Zeit wir eigentlich stehen. Also im Kleinen gewissermaßen das Große zu spiegeln, das gelingt manchmal besser für einige Zuschauer, manchmal schlechter. Für einige sind es vielleicht einfach fünf Geschichten von fünf zufällig ausgewählten Leben. Ich würde aber doch sagen, dass, wenn man ganz nahe ans Einzelne heranzoomt, dann wird plötzlich auch das Universelle unserer Zeit sichtbar.
von Billerbeck: Das heißt, das ist der Wassertropfen, in dem sich die Welt spiegelt.
Rau: Genau. So würde ich es sagen. Es der Wassertropfen, in dem sich die Welt spiegelt. Es ist aber auch einfach der Wassertropfen an sich, der mich interessiert. Mich interessiert tatsächlich das individuelle Schicksal in dieser Trilogie, und jetzt auch im zweiten Teil. Ich will diese Leben begleiten.
Die Idee Europa: Mehr als nur Wohlstand für alle?
von Billerbeck: Da klingelt das Handy im Hintergrund. Diese Erfahrungen aus unterschiedlichen Ländern, aus Deutschland, aus Russland, aus den Staaten des ehemaligen Jugoslawien, die erinnern uns ja auch daran, was wir eben genau nicht mehr wollen. Liegt darin nicht auch eine Hoffnung?
Rau: Ja, es liegt natürlich eine Hoffnung darin, dass man sagt, das neue Europa soll keines der Kriege, keins der Nationalismen mehr sein. Das Problem ist nur, dass erstens der Zombie des Nationalismus durchaus immer noch umgeht in Europa, und das zweite Problem ist, man kann schon sagen, was man nicht will, dann muss man aber auch sagen, was man will. Also, was ist denn die Utopie Europas, außer, dass alle Wohlstand haben sollen von Athen bis Berlin? Und da, da gibt es tatsächlich eine Leerstelle, eine Lücke.
von Billerbeck: Das heißt, darüber sagen die Schauspieler, die Darsteller, die sich erinnern, nichts?
Rau: Darüber sagen sie nichts. Darüber wissen wir auch bedauerlicherweise gar nicht so wahnsinnig viel zu sagen. Die Europa-Trilogie hat insofern einen negativen Aspekt, eine negative Sichtweise im dialektischen Sinne. Man guckt, was hat man verloren, wo stehen wir? Also was, was ist eigentlich die Trümmerlandschaft, auf der das neue Europa errichtet wird? Und gleichzeitig wird natürlich auch ein Fenster aufgemacht, das ist dann der dritte Teil, zu jenen Regionen in der Welt, die eigentlich dafür herhalten müssen, damit wir diesen Wohlstand haben, also Zentralafrika, wo diese Rohstoffe abgebaut werden, die wir brauchen. Das gehört genauso zum neuen Europa wie das, was in Europa selber passiert, ist die Bürgerkriege.
von Billerbeck: Nun wird dieses Stück von fünf Schauspielern, die aus verschiedenen Ländern kommen, nicht einfach nur so auf Deutsch gespielt, sondern auch in einer sprachlichen Vielfalt. Das heißt, die erzählen ihre Erinnerungen auch in ihrer Muttersprache, in ihrer Heimatsprache. Und dann gibt es Übertitel im Theater. Warum ist Ihnen diese Erkennbarkeit der Nationalität auch sprachlich so wichtig?
Rau: Man spricht ganz anders über Dinge, die man in seiner eigenen Sprache oder eben in diesem seltsamen Englisch, das wir Europäer verwenden und das wir natürlich auch in den Proben verwenden, verwendet, das sehr ungenau, sehr abstrakt ist, wo vielleicht auch viele Dinge ganz einfach sagbar sind, die schwierig sagbar werden, wenn man sie dann auf Bosnisch, Serbisch oder eben Deutsch erzählt. Und es ist mir sehr wichtig, dass hier eine Genauigkeit in der Sprache besteht, weil es gibt in diesem Stück eigentlich außer Sprache nicht viel. Es gibt keine Spielszenen, oder vielleicht mal eine. Es ist wirklich Erzähltheater. Die Schauspieler sitzen da, erzählen, und die Bilder entstehen im Kopf. Der Zuschauer – es werden mal Fotos gezeigt – das ist eine ganz, ganz kleine, feine Spielanlage, wo die Sprache eine absolut zentrale Rolle spielt.
Musikalische Europa-Kritik
von Billerbeck: Das ist ein Stück für mich, weil ich mag das, wenn ich nicht so abgelenkt werde von Videoaufnahmen et cetera, sondern wenn es sich so konzentriert. Sie haben auch Musik für dieses Stück, und die kommt von der slowenischen Band Laibach. Und wenn ich mich richtig erinnere, haben Sie die in eine Reihe gestellt mit Emir Kusturica und Marina Abramovic, also drei Künstler aus dem ehemaligen Jugoslawien oder Künstlergruppen, die wichtig sind. Ist das eine weitere persönliche Geschichte aus diesem zerschlagenen Land, ehemals Jugoslawien?
Rau: Laibach ist aus verschiedenen Gründen eine sehr interessante Band. Bei uns im Stück ist sie gewissermaßen von historischer Bedeutung, weil verschiedene Schauspieler auf wichtigen Konzerten von ihnen während dem Jugoslawienkrieg waren, also die tatsächlich – das sind biografische Angelpunkte von ihnen. Gleichzeitig ist das eine Band, die sich seit 30 Jahren mit Europa beschäftigt. Jedes Album, auch ihr aktuelles, ist eigentlich eine Kritik von Europa, vom imperialen Europa, vom sozialistischen Europa früher oder vom kapitalistischen jetzt. Und das war für mich interessant, die Musik von jemandem zu haben, der das Thema, nämlich Europa, noch mal von einer anderen Seite ansieht. Und ich hab sie deshalb gebeten, die Band, Songs zu machen, quasi europäische Songs über ein Thema zu machen, wo verschiedene traditionelle Linien des europäischen Kulturguts noch mal aufscheinen. Also, man hat die große Filmmusik, man hat die klassische Musik aus der Renaissance, man hat die Fin-de-Siècle-Musik und so weiter. Also, das war mir wichtig, da so ein bisschen eine Interpretation noch mal zu haben, weil es gibt, auch sehr einfach, im Stück fünf Akte, und die werden immer eingeleitet durch ein musikalisches Motiv, und das ist eben von Laibach.
von Billerbeck: Der Schweizer Regisseur Milo Rau hier im "Studio 9". Am Samstag wird sein Stück "The Dark Ages" als der zweite Teil seiner Europa-Trilogie im Münchener Residenz-Theater uraufgeführt. Alles Gute für Sie, und herzlichen Dank für das Gespräch!
Rau: Herzlichen Dank auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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