Thälmannstraßen, Jugendweihen und PDS-Stimmen

Von Alexander Gauland · 02.10.2005
Ganz so ist es nicht gekommen, wie Edmund Stoiber befürchtet hatte, die Frustrierten bestimmen nicht den Bundeskanzler. Doch 25 Prozent für die Neue Linke im Osten sind ein Menetekel für jede Regierung und allemal eine Reformbremse 15 Jahre nach der Wiedervereinigung. Mag auch ein Neuanfang ins Haus stehen, die Probleme sind die alten und das der misslungenen Vereinigung ein besonders hartnäckiges.
Dabei hätte man es wissen können. Schließlich laboriert Irland immer noch an den Folgen der Schlacht an der Boyne und die liegt nun 315 Jahre zurück. Aber auch Rom und der spanische Süden Italiens sind nach 145 Jahren noch grundverschieden vom lombardisch-venezianischen Norden. Doch historische Erkenntnis ist seit dem Untergang des Großdeutschen Reiches eine deutsche Schwäche und so hatten wohl viele tatsächlich geglaubt, dass sich 60 Jahre braune und rote Diktatur wie Alkohol verflüchtigen, ohne Spuren im Volkskörper zu hinterlassen.

Das aber stand nicht einmal bei einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte zu erwarten. Tatsächlich ist die Wiedervereinigung alles andere als das. Noch immer erreicht die Wirtschaftskraft des Ostens nur etwas mehr als 60 Prozent des westdeutschen Niveaus, während die Arbeitslosenquote etwa doppelt so hoch ist. Dass die deutsche Wachstumsschwäche nach OECD-Berechnungen zu zwei Dritteln auf die Sonderleistungen für den Aufbau Ost zurückzuführen ist, die inzwischen zu großen Teilen im täglichen Staatskonsum verschwinden, zeigt das Ausmaß des Desasters.

Dabei sind die psychologischen Folgen schlimmer als die wirtschaftlichen. Denn anders als erwartet und erhofft hat sich weder der selbst tragende Aufschwung eingestellt noch die bürgerliche Rückgewinnung alten Kulturlandes. Von einigen Inseln in Sachsen und Thüringen abgesehen, ist in den neuen Ländern eine Transfergesellschaft entstanden, die alles vom Staat erwartet und kaum Selbstvertrauen zeigt. Wie sollte sie auch, da sich die großen Leistungen der erneuerten Infrastruktur und der wieder aufgebauten Stadtkerne öffentlicher Anstrengungen verdanken, wohin gegen die private wirtschaftliche Kraft bescheiden geblieben ist.

Es ist Mode geworden, die Fehler des Anfangs mit dem Satz "Bei der nächsten Wiedervereinigung machen wir es besser" ins Absurde zu verweisen. Doch ein realistischer Umtauschkurs, eine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede und maßvolle Steuererhöhungen, statt die Sozialkassen zu plündern, hätten wohl ausgereicht, das Ergebnis zu verbessern.

An den damals gemachten Fehlern kann man studieren, dass politischer Wettbewerb in großen Krisen nicht immer das Ei des Kolumbus ist. So musste Helmut Kohl blühende Landschaften versprechen, obwohl Erziehung zur Marktwirtschaft richtiger gewesen wäre. Denn eben das, die falschen Versprechungen, waren die drückendste Last auf dem Neuanfang. Die schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse hat das Kapital verwirtschaftet, mit dem der Osten hätte wuchern können und müssen.

Was daraus folgte, war abzusehen. Da eine Mehrheit der Ostdeutschen weniger die Freiheit als den materiellen Erfolg suchte, veränderte sein Steckenbleiben im Morast von Firmenzusammenbrüchen und Arbeitslosigkeit die grundsätzliche Einstellung zur neuen Ordnung. Wie hatte einst Bärbel Bohley so treffend formuliert: Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat. Heute könnte man hinzufügen: Die Ostdeutschen wollten den westlichen Wohlstand und müssen sich nun mit Hartz IV auseinandersetzen. Das schmerzt besonders, weil die Regierenden lange Zeit den Eindruck erweckten, sie könnten neue industrielle Strukturen aufbauen und Arbeitsplätze schaffen.

Der Sieg der bürgerlichen Werte kam in der alten Bundesrepublik mit dem wirtschaftlichen Erfolg, ihr Angefochtensein in den neuen Bundesländern ist die Folge ihres relativen Misserfolges. Und da man eine neue Heimat nur annimmt, in dem man sich in ihr einrichtet, fühlen sich viele Ostdeutsche in dem wiedervereinigten Land, das ihnen die erhofften Lebensverhältnisse verwehrt, nicht zuhause. Die Folge davon sind Thälmannstraßen, Jugendweihen und PDS-Stimmen, eine nostalgische Heimat eben, die einen daran erinnert, dass in der untergegangenen DDR zwar alle gleich arm, aber eben sicher vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg waren.

Allee in BrandenburgUnd so hat sich nach der Wende im Osten eine neue Identität gebildet und sind in Deutschland zwei Parallelgesellschaften entstanden, die voneinander wenig wissen und nichts lernen wollen. So lange die wirtschaftliche Kraft des Westens ausreichte, die Defizite, wenn auch nicht aus der Portokasse, so doch aus den Überschüssen zu decken, war alles gut oder wenigstens erträglich.

Seit die Autobahnen in Brandenburg in einem exzellenten, aber die Straßen in Frankfurt am Main in einem erbarmungswürdigen Zustand sind, hat der Westen einen großen Teil seiner ökonomischen Kraft und damit sein Selbstvertrauen verloren. Und da der wirtschaftliche Erfolg in diesem Land seit 1949 seine Identität ausmacht, ist diese angeschlagen und der Osten Schuld daran. Dass die Fehler von denen gemacht wurden, die damals das Sagen hatten, ist längst vergessen und verdrängt.

15 Jahre danach ist der Tag der deutschen Einheit eher ein melancholisches Datum, auch weil sich in ihm eine alte Volksweisheit spiegelt: Fehler bei der Geburt kann man nicht ungeschehen machen. Skeptische Beobachter waren schon immer der Meinung, dass das Zusammenwachsen mindestens eine Generation, also 30 Jahre, dauern wird, davon ist gerade einmal die Hälfte um. Das Urteil der Geschichte kann man also noch nicht aufrufen, das Urteil der Zeitgenossen fällt derzeit eher ungünstig aus.


Dr. Alexander Gauland, geb. 1941 in Chemnitz, ist Herausgeber der Märkischen Allgemeinen Zeitung in Potsdam. Von 1987 bis 1991 war er Staatssekretär und Chef der hessischen Staatskanzlei. Anfang der 70er Jahre hatte Gauland im Presse- und Informationsamt der Bundesregierung gearbeitet. Als Publizist hat er zahlreiche Artikel und Beiträge zu gesellschaftspolitischen Fragen, zur Wertediskussion und des nationalen Selbstverständnisses veröffentlicht. Letzte Buchveröffentlichung: "Anleitung zum Konservativsein".
Teils abgerissen stehen in Dresden typische DDR-Plattenbauten
Teils abgerissen stehen in Dresden typische DDR-Plattenbauten© AP