Texte von Sinti und Roma

Aufbruch aus dem Verborgenen

56:01 Minuten
Historische Fotografie der polnischen Roma-Lyrikerin Bronisława Wajs, bekannt als Papusza, auf einer Bühne.
Bronisława Wajs, bekannt als Papusza („Puppe“), ist eine der bekanntesten Roma-Lyrikerinnen © picture alliance / PAP / Zbigniew Staszyszyn
Von Beate Ziegs · 04.10.2020
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Literatur über "Zigeuner" gibt es zuhauf, viel mehr als über Sinti und Roma. Literatur von der größten ethnischen Minderheit Europas aber gibt es kaum. Erst seit dem Holocaust nimmt die Zahl ihrer Texte zu. Sinti und Roma schreiben zurück.
Die Klischees über das einzige Volk Europas, das keinen Staat gegründet hat und in vielen lebt, entgleisen schnell: Ach, diese Zigeuner! Ihre wunderbare Musik! Und die unendliche Freiheitsliebe! Die genialen Geiger! Die rassigen und leidenschaftlichen Schönheiten! Die geheimnisvollen Wahrsagerinnen! Die gewaltigen Wohnwagen, gezogen von erstaunlich kostspieligen Autos! Die schmutzigen Kinderhorden! Die hinterlistigen Weiber! Die ruchlosen Kindsräuberinnen! Die raffinierten Diebe! Die schamlosen Bettler! Das arbeitsscheue Gesindel!

Romantisieren bis zum rassistischen Klischee

Ehrbare Geister haben an diesen Klischees mitgeschrieben: Johann Gottfried Herder, Hermann Hesse, Johann Wolfgang Goethe und Gerhart Hauptmann, August Strindberg, Emily Brontë, Prosper Mérimée, Victor Hugo, Alexander Puschkin und viele andere.
Das Romantisieren der ach so unbürgerlichen Lebensweise geht oft und rasant in diffamierende, rassistische Stereotypen über. Der Genozid der Nationalsozialisten an den "Zigeunern" war der mörderische Höhepunkt einer jahrhundertelangen Ausgrenzung.
Lange musste die Minderheit, die sich seit einigen Jahrzehnten als Sinti und Roma bezeichnet, um die Anerkennung ihres Holocaust, des Porajmos, kämpfen. Die Bundesrepublik verweigerte den Sinti und Roma die moralische und rechtliche Anerkennung als Opfer des Nationalsozialismus, sie zahlte auch keine Entschädigungen.

Mündliche Kultur

Die mit etwa zwölf Millionen Angehörigen größte ethnische Minderheit Europas kämpfte länger als 20 Jahre für einen Erinnerungsort. Erst im Oktober 2012 wurde das von Dani Karavan entworfene nationale Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Berlin eingeweiht.
Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma im Berliner Tiergarten.
Spätes Erinnern: Das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma. © picture alliance / Bildagentur-online / Schoening
Dass die Sinti und Roma zerstreut in Europa leben und lange Zeit keine gewählten Vertreter besaßen, erleichtert ihren Kampf um Bürgerrechte und gegen Rassismus nicht. Ebenso, dass ihre Kultur mündlich geprägt ist, die von vielen gesprochene Sprache Romanes oftmals verboten war und keine kodifizierte Schriftform besaß.
Außerdem wurde Romanes geheim gehalten, um Nicht-Sinti und Nicht-Roma fernzuhalten. So konnten Sinti und Roma fast ausschließlich zu Objekten, Themen, Motiven der Literatur werden. Es gibt sehr wenige Zeugnisse und Quellen aus ihrer Sicht.

Der Aufstieg der Schrift

Seit einiger Zeit aber schreiben Sinti und Roma zurück. Seit die Bürgerrechtsbewegung Schreiben als Waffe im politischen Kampf begreift, hat das Misstrauen gegenüber der Schriftlichkeit deutlich abgenommen. Manche Schriftsteller der Minderheit erinnern sich noch daran, wie sie nach Buchstaben und Silben, nach einer Schriftform für ihre Geschichten suchen mussten.
1990 beauftragte die Internationale Romani Union Linguisten aus aller Welt, ein Konzept zur Standardisierung von Romanes zu erarbeiten. Mittlerweile ist ein Studium der Sprache unter anderem an der Pariser Sorbonne und der Prager Karls-Universität möglich.
(pla)
Das Manuskript der Sendung können Sie hier herunterladen.

Es sprechen: Sabine Arnhold, Frank Arnold, Anika Mauer, Adam Nümm
Ton: Ralf Jonathan Perz
Regie: Beate Ziegs
Redaktion: Jörg Plath

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