Terrorismusbekämpfung

"Israel ist kein Vorbild"

Die Leiterin des Tel-Aviv-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung und frühere Staatsministerin Kerstin Müller (Bündnis 90/Die Grünen)
Leitet das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv: die frühere Staatsministerin Kerstin Müller (Bündnis 90/Die Grünen) © Imago
Die frühere Staatsministerin Kerstin Müller im Gespräch mit Korbinian Frenzel · 20.11.2015
Nach den Anschlägen von Paris wurde die Forderung laut, Europa solle sich im Umgang mit dem Terror Israel zum Vorbild nehmen. Kerstin Müller, ehemalige Staatsministerin im Auswärtigen Amt, widerspricht: Eine offene Gesellschaft könne auf Dauer nicht mit massiver Einschränkung von Freiheitsrechten leben.
Israel ist für Kerstin Müller, frühere Staatsministerin im Auswärtigen Amt und Leiterin der den Grünen nahestehenden Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv, kein Vorbild für den Umgang mit Terrorismus und Alltagsgewalt.
Massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit
"Es ist eine andere Situation als in Paris", sagt Müller. In Israel habe man politisch entschieden, mit dem Status Quo zu leben. Auch hätten sich die Menschen an die Gewalt im Alltag gewöhnt. "Aber es ist eine massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit, es ist eine massive Einschränkung von Freiheitsrechten. Das weiß man hier auch, und das möchte man eigentlich nicht", betonte die frühere Staatsministerin im Auswärtigen Amt.
Man muss die Ursachen bekämpfen
Wegen dieser Einschränkung der Freiheitsrechte könne eine offene Gesellschaft nicht auf Dauer mit Terror und permanenter Alltagsgewalt leben, warnt Müller: "Stellen Sie sich vor, die freiheitsliebenden Franzosen müssten nun auf Dauer mit einer solchen Militärpräsenz in den Straßen rechnen!"
Natürlich müsse man nach Wegen suchen, den gewaltbereiten Islamismus und Terrorismus zu bekämpfen, räumt Müller ein. In erster Linie müsse man jedoch "an die Ursachen ran".

Das Interview im Wortlaut:
Korbinian Frenzel: Wer in diesen Tagen unterwegs ist an Orten mit vielen Menschen, bei Konzerten zum Beispiel, der wird merken, die Sicherheitsmaßnahmen haben enorm zugenommen, Taschenkontrollen, die sogenannte Vereinzelung et cetera pp. Reaktionen auf das, was in Paris passiert ist, Reaktionen, die wir so auch schon vorher hatten, nach dem 11. September natürlich, Reaktionen, bei denen wir bisher immer wussten, nach einer gewissen Zeit wird es sich wieder legen, wird die vielbesagte Normalität zurückkehren. Was aber ist, wenn diese reale oder auch nur gefühlte Terrorgefahr zur Normalität wird, zum Dauerzustand?
Auf der Suche nach Antworten auf diese Frage gehen wir jetzt nach Israel, ein Land – und das sage ich jetzt ohne politische Wertung –, das seit seiner Gründung Gewalt und auch Terror erlebt. In Tel Aviv ist die frühere Staatsministerin im Auswärtigen Amt, Kerstin Müller, am Telefon, sie leitet dort das Büro der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung. Frau Müller, guten Morgen! Boker tov!
Kerstin Müller: Guten Morgen, Herr Frenzel!
Gewalt "ein Stück weit Alltag geworden"
Frenzel: Es gab ja gestern diese Nachricht, zwei Männer, die in Tel Aviv erstochen wurden, wie Sie mir erzählt haben, ganz in der Nähe Ihres Büros – wie ist das für Sie, wenn diese Gewalt, wenn der Terror so nahe ist?
Müller: Zum einen ist zwar Gewalt ein Stück weit Alltag geworden, und so schlimm das klingt, aber auch ich habe mich wie ein Teil der Israelis oder die meisten Israelis daran gewöhnt, aber wenn dann solche Einschläge direkt in unmittelbarer Nähe passieren, dann ist das schon immer wieder ein Schock. Im Büro zum Beispiel, um das zu schildern: Meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurden direkt sehr unruhig, wir haben unsere Sitzung abgebrochen. Die, die Kinder haben, haben dann direkt ihren Plan umgestellt und gesagt, ich will mein Kind selber vom Kindergarten abholen, also sozusagen das Bedürfnis, die Familie zusammen zu halten, auch wenn jetzt das in Süd Tel Aviv passiert war und der Kindergarten am anderen Ende der Stadt ist, dann merkt man eben doch, diese Einschläge sind dann doch nicht Normalität, und der Alltag leidet darunter, das ganze Leben leidet darunter.
Sicherheit die alles bestimmende Frage in Israel
Frenzel: Wie sehr spielt das eine Rolle im täglichen Leben? Wir hatten natürlich nun gestern diese konkrete Situation, aber im ganz normalen täglichen Leben, würden Sie sagen, Sicherheit ist da einfach ein Dauerthema in Israel?
Müller: Sicherheit ist die alles bestimmende Frage, muss man leider sagen. Hier in Tel Aviv, im Unterschied auch zu Jerusalem, man versucht sehr stark, das zu verdrängen, indem man einen ganz normalen Alltag einer mediterranen Stadt spielt – nicht nur spielt, sondern natürlich versucht, das auch zu leben. Aber es ist einfach so, in jedem Geschäft werden die Taschen untersucht, selbst, wenn man am Strand ist abends, der Sand wird abgesucht nach möglichen Bomben, die dort gelegt sein könnten, die Bahnhöfe sind immer streng bewacht.
Jetzt, in den Zeiten dieser großen Eskalation, die wir seit einigen Monaten hier schon erleben, schon weit vor Paris, noch strenger als sonst, und zwar nicht nur durch Polizei oder Sicherheitskräfte, sondern durch Militär. Es gab auch, und gibt, rund um die Anschlagswelle natürlich eine ganz hohe Militärpräsenz. In Jerusalem wiederum stärker als hier in Tel Aviv. Und jeder Bus, das muss man sich mal vorstellen – das wäre in Deutschland, glaube ich, undenkbar –, in einem normalen öffentlichen Bus wurden in Jerusalem, als die große Anschlagswelle war, wurde Militär in die Busse versetzt, um dort eben für Sicherheit zu sorgen.
Das ist schon eine sehr große Einschränkung von Bewegungsfreiheit, von alltäglicher Freiheit, die man sich, glaube ich, heute in Europa noch nicht vorstellen kann und die die Pariser leider wahrscheinlich gerade nach diesen schrecklichen Anschlägen vom 13. November erleben.
Die Perspektivlosigkeit der palästinensischen Gesellschaft wird verdrängt
Frenzel: Ich habe gestern einen Satz gelesen, einen Satz der französisch-israelischen Soziologin Eva Illouz in der aktuellen Ausgabe der "Zeit", sie schreibt, "wer wissen will, wie mit einem feindlichen Umfeld zu verfahren ist, der schaue nach Israel". Stimmen Sie dem zu? Ist Israel Vorbild im Umgang mit der dauerhaften Terrorgefahr?
Müller: Nein, ich würde dem nicht zustimmen, denn es ist ja nun nicht so, dass die Israelis damit glücklich sind. Sie haben sich ein Stück weit an die Gewalt gewöhnt, aber zum Beispiel auch im letzten Jahr im Sommer, 50 Tage Gaza-Krieg, dort hat man gemerkt, man gewöhnt sich am Ende dann doch nie daran, dass Kinder im 21. Jahrhundert ihren Urlaub überwiegend im Bunker verbringen.
Das möchte eine moderne und auch westliche Gesellschaft natürlich eigentlich nicht, es ist eine massive Einschränkung der Bewegungsfreiheit, es ist eine massive Einschränkung von Freiheitsrechten, und das weiß man hier auch, und das möchte man eigentlich nicht. Vorbild – nun, es liegt wohl hier daran, dass man politisch der Meinung ist, dass man mit dem Status quo leben kann und leben sollte, dass man also nicht schon vor vielen Jahren bereit war, die Besatzung zu beenden, und das führt hier natürlich – und das ist eine andere Situation als in Paris, das ist eine besondere Situation –, das führt hier zu solchen Anschlagswellen oder auch Attacken von Messerstechern.
Natürlich wird hier auch ein islamistisches Motiv oft und meistens vermutet, ist aber nicht immer der Fall. Hier ist damit eben auch verbunden ein Aufstand – ohne, das jetzt rechtfertigen zu wollen – gegen die andauernde Besatzung, eine massive Perspektivlosigkeit der palästinensischen Gesellschaft, und auch das wird leider aus dem Alltag ausgeblendet. Eine solche Situation, die kann man sich nicht als Vorbild wünschen.
Abschaffung der Binnengrenzen "große Errungenschaft" Europas
Frenzel: Wenn Sie Israel in längerem Zeitraum betrachten – hat sich Israel verändert? Ist es vielleicht ein Beispiel dafür, dass jede offene demokratische Gesellschaft leidet und am Ende diesen Charakter immer mehr verliert, wenn die Bedrohung allgegenwärtig ist?
Müller: Auf jeden Fall ist das so. Eine offene Gesellschaft kann auf Dauer mit Terror und permanenter Alltagsgewalt nicht leben, weil es diese offene Gesellschaft beschränkt, weil es die Freiheitsrechte beschränkt, die Liberalität beschränkt. Stellen Sie sich vor, die freiheitsliebenden Franzosen müssten nun auf Dauer mit einer solchen Militärpräsenz in den Straßen rechnen, dass man keine öffentlichen – ich benutze jetzt mal als Beispiel mit meiner Tochter keine öffentlichen Busse, dass man Angst hat, öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen, dass die Grenzen massiv gesichert sind. Wir kennen in Europa außer an unseren Außengrenzen keine Grenzen mehr und haben das als eine große Errungenschaft betrachtet.
Also eine offene Gesellschaft kann mit einer Gewalt auf Dauer nicht leben, das heißt, man muss an die Ursachen ran, man muss natürlich nach Wegen suchen, diesem jetzt auch gewaltbereiten Islamismus und menschenverachtenden Terrorismus auch zu bekämpfen. Hier in Israel insbesondere hat man zum einen mit diesem gewaltbereiten Islamismus zu tun, aber man hat eben auch das Problem der Besatzung, wo es sehr wohl Lösungen gibt, wo aber die Politik hier nicht bereit ist, diese Lösungen in Angriff zu nehmen. Man muss sich das eben auf Dauer überlegen, und ich glaube, die Mehrheit hier will das im Grunde auch nicht, dass man, weil man zu einer politischen Lösung nicht bereit ist, solche Einschränkungen im Alltag auf Dauer hinzunehmen bereit ist.
Frenzel: Das sagt Kerstin Müller, die Leiterin der Böll-Stiftung in Tel Aviv. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Müller: Bitte schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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