Terror in Europa

Dschihadismus der dritten Generation

Straßenszene: mehrere Soldaten und Passanten stehen in der Nähe des Tatorts.
Soldaten in der Nähe des Tatorts im 18. Arrondissement von Paris. © picture alliance / dpa / Yoan Valat
Von Kathrin Hondl · 13.09.2016
Der Pariser Soziologe Gilles Kepel beobachtet seit vielen Jahren eine bedrohliche Entwicklung: dschihadistische Terrorangriffe "aus dem Bauch Europas". Rekrutiert würden dafür schlecht integrierte Jugendliche, die empfänglich sind für die Heilsversprechen eines radikalen Islam.
"On a une révolution culturelle djihadiste qui a été ratée. Les services de renseignements ont toujours continués ..."
Eine "dschihadistische Kulturrevolution" sei verpasst worden, sagt Gilles Kepel. Denn viel zu lange hätten Geheimdienste und Politiker weiter so agiert, als sei ihr Gegenüber noch immer die pyramidale Kampfmaschine Osama Bin Ladens.
Die entscheidende Wende aber zum "Dschihadismus der dritten Generation" datiert Kepel bereits auf das Jahr 2005. Damals erschien im Internet ein "Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand". Geschrieben hatte ihn Abu Musab Al-Suri, ein syrischer Dschihadist mit spanischer Staatsbürgerschaft, der in Frankreich studiert hatte.
Al-Suri kritisierte den spektakulären Angriff auf die USA vom 11. September als Hybris, als Überheblichkeit des Terrorfürsten Bin Laden. Statt dessen rief er dazu auf, aus dem - so wörtlich - "schlaffen Bauch Europas" heraus die westlichen Gesellschaften direkt anzugreifen und dafür "schlecht integrierte" Jugendliche zu rekrutieren.
"Diese Texte wurden damals nicht ernst genommen. Ich hatte sie 2008 übersetzt, aber niemand interessierte sich auch nur im Geringsten dafür. Der Dschihadismus der dritten Generation, wie er dort definiert wurde, ist heute der Schlüssel zum Verständnis des Dschihad in Europa, zusammen mit den Ereignissen in Syrien natürlich.
Die meisten jungen Leute, die heute in Frankreich, in Deutschland oder in Syrien Menschen töten, kennen den Namen Al-Suri vermutlich nicht. Aber entscheidend sind die Spuren dieses Denkens, das in den Sozialen Netzwerken und in Videos recycelt wurde und so die ideologische Basis dessen wurde, womit wir heute leben."

Soziale Ausgrenzung macht empfänglich für Radikales

Dass die neue Dschihad-Ideologie sich besonders in Frankreich so viral verbreiten konnte, sieht Gilles Kepel im Zusammenhang mit einem weiteren einschneidenden Ereignis im Herbst des Schlüsseljahrs 2005: Den wochenlangen Unruhen in den Banlieues, den trostlosen Vororten französischer Großstädte, wo Arbeits- und Perspektivlosigkeit den Alltag vieler Jugendlicher prägen.

Kepel sitzt in einem düsteren Raum vor einem, Bücherregal und lächelt in die Kamera. Auf sein Gesicht fällt Tageslicht.
Der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel am 24.1.2012 im Paris Institute of Political Studies.© AFP / JOEL SAGET
Detailliert beschreibt der Soziologe Kepel, wie sich die französische Gesellschaft seither veränderte. Wie Wirtschaftskrise und soziale Ausgrenzung junge Franzosen empfänglich machten für die Heilsversprechen eines radikalen Islam. Wie der Salafismus an Einfluss und gleichzeitig der rechtsextreme Front National Wählerstimmen gewann – und wie sich beides wechselseitig bedingte. Und wie auch die koloniale Vergangenheit Frankreichs den "Dschihadismus der dritten Generation" prägte. Kepel spricht von einer "retrokolonialen" Dimension des Terrors.
"Als Mohamed Merah - Sohn einer algerischen Familie, die Frankreich hasste - jüdische Schulkinder in Toulouse tötete, war das am 19. März 2012. Exakt am 50. Jahrestag des Waffenstillstands, mit dem der Algerienkrieg endete. Das ist ein starkes Symbol, denn Merah begann einen neuen Algerienkrieg, nur diesmal auf französischem Boden."
Kepel analysiert die vielfältigen Ursachen des Terrors in ihrer ganzen Komplexität. Er stützt sich dabei sowohl auf seine Kompetenz als Kenner der arabischen Welt und Sprache, als auch auf seine soziologischen Studien vor Ort, in den Hochburgen des französischen Dschihadismus.

Eine Art verkappter Bürgerkrieg

Im letzten Kapitel zeichnet Kepel das düstere Bild einer französischen Gesellschaft im zerstörerischen Würgegriff zwischen dschihadistischem Terror und identitärem Rechtsextremismus.
"Man hat das Gefühl, dass sich ein Bruch vollzieht. Ein omnipräsenter Argwohn, der Gefahr läuft durch die Provokationen auf allen Seiten zu einer Art verkapptem Bürgerkrieg zu werden."
Man muss Kepels pessimistische Zukunftsvision nicht unbedingt teilen. Aber wer unsere Gegenwart verstehen will, muss sein Buch über die Genese des Dschihad in Europa lesen. Kepels analytischer Blick konzentriert sich auf Frankreich, doch die gesellschaftlichen Brüche, die er beschreibt, gibt es auch in Deutschland.

Gilles Kepel: "Terror in Frankreich. Der neue Dschihad in Europa"
Verlag Antje Kunstmann
302 Seiten, 24 Euro

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