"Teil der Vernichtungsmaschinerie"

Joschka Fischer im Gespräch mit Andreas Müller · 26.10.2010
Er sei "überrascht und entsetzt" darüber, in welchem Umfang deutsche Diplomaten in die NS-Verbrechen verstrickt waren, sagt Joschka Fischer. In seiner Amtszeit als Außenminister hatte der Grünen-Politiker die historische Studie über die Rolle des Auswärtigen Amtes in der Nazi-Zeit in Auftrag gegeben.
Andreas Müller: Der Bundesaußenminister konnte wohl zunächst gar nicht glauben, was ihm da zugetragen wurde. Joschka Fischer hatte erfahren, dass verstorbene Botschafter des Auswärtigen Amtes mit NS-Vergangenheit amtsintern Würdigung zuteil wurde – wie dem 2004 verstorbenen Franz Krapf, ehemals Mitglied der NSDAP. Ihm wollte Joschka Fischer das ehrende Angedenken verwehren, was wiederum zum sogenannten Aufstand der Mumien führte. Die alten Kämpfer des Auswärtigen Amtes finanzierten schließlich mit privatem Geld eine Todesanzeige für Krapf – eine ungeheure Provokation.

Das Ganze rief dringend nach Aufarbeitung. Im Jahr darauf setzte Joschka Fischer eine Historikerkommission ein, deren Bericht über die Verstrickung des Amtes im Dritten Reich liegt nun vor und schlägt hohe Wellen. Jetzt ist der Bundesaußenminister a.D. bei uns zu Gast – schönen guten Tag, Herr Fischer!

Joschka Fischer: Guten Tag!

Müller: Die deutschen Diplomaten waren viel früher und viel stärker in die NS-Verbrechen, insbesondere die Judenverfolgung, verstrickt als bisher angenommen. Hat Sie dieses zentrale Ergebnis der Studie in seiner Deutlichkeit überrascht?

Fischer: Was mich überrascht und entsetzt hat, ist in der Tat, in welchem Umfang das geschehen ist. Es ist ja vieles schon durch andere Historiker herausgearbeitet worden, die aber immer versucht wurden, und zwar erfolgreich, sie sozusagen ein Stück weit wegzuhalten, zu diskriminieren. Diese Studie bringt jetzt eine Gesamtschau, und es ist offensichtlich, dass das Auswärtige Amt Teil der Vernichtungsmaschinerie gegenüber dem europäischen Judentum war, und zwar vor allen Dingen in den Ländern, die damals mit Deutschland verbündet waren oder besetzt waren, vor allen Dingen im Westen. Das galt weniger für das sogenannte Generalgouvernement, also Polen und das besetzte Russland und die Ukraine und das Baltikum. Dort waren es im Wesentlichen die SS und die Einsatzgruppen, aber auch all das war dem Auswärtigen Amt bekannt. Und diese Gesamtschau, die ist in der Tat zutiefst deprimierend.

Müller: Was bedeutet das eigentlich, wenn Diplomaten, deren Auftrag Diplomatie ist, derart direkt an Verbrechen beteiligt waren?

Fischer: Ja, man muss die Gesamtsituation sehen. Es war das nationalsozialistische Deutschland, das galt ja nicht nur für die Diplomaten, sondern für den Staatsapparat insgesamt, auch die Polizei, die Justiz. Es ist ja keiner der Blutrichter der nationalsozialistischen Diktatur jemals verurteilt worden und es wurde nie wegen Rechtsbeugung mit mörderischen Folgen jemand wirklich belangt. Die sind alle im Bett gestorben, was man von ihren Opfern leider nicht sagen kann. Das war die Zeit, in der das offensichtlich toleriert wurde.

Und bei den Diplomaten muss man auch sehen: Es waren eben im Wesentlichen junge Männer, die damals im diplomatischen Dienst waren und die unter Zuhilfenahme von Retuschen an ihren Biografien dann einen demokratischen Neuanfang gemacht haben. Und der Hinweis darauf, auf diese Vergangenheit, der war eben nicht gerne gesehen. Ich verstehe ja nicht, warum diese Leute einen solchen Wert auf einen Post-Mortem-, also Nach-dem-Tode-Nachruf im Amtsblättchen des Auswärtigen Amtes haben wollten.

Man könnte ja auch sagen, was soll’s. Das ist meine Biografie, ja, da ist Licht, da ist Schatten, aber ich muss nicht unbedingt so einen Nachruf haben. Aber dass diese Nachrufe so wichtig waren, hat mich sehr zum Nachdenken gebracht. Und offensichtlich soll hier der letzte Persilschein auch nach dem Ableben noch mal ausgestellt werden durch ehrendes Andenken, und das konnte nicht sein – nicht mit mir.

Müller: Ja, es ist ja tatsächlich so. Man hätte vermuten können, dass nach dem Kriege wenigstens in Teilen ein personeller Wechsel, sicher aber ein Ende bestimmter Denktraditionen stattgefunden hätte, hat aber nicht. Es gab natürlich keine Kontinuität in nationalsozialistischer Außenpolitik, alte Denktraditionen aber nach wie vor. Welche waren das?

Fischer: Na ja, es ist ambivalenter, als Sie es dargestellt haben. Es gab personelle Kontinuitäten, es gab aber – der Schock über die Katastrophe, in die die Nazis und alle, die beteiligt waren, Deutschland gestürzt haben, die fast völlige Selbstzerstörung Deutschlands, die deutsche Teilung, 14 Millionen Flüchtlinge, zig Millionen von Toten, furchtbare Verbrechen und auch der fast völlige moralische Bankrott Deutschlands durch die Nazis und durch die Verbrechen, die sie begangen haben, all das hat natürlich massiv gewirkt, das darf man nicht unterschätzen. Und es war ja auch diese Generation, die zum Aufbau der Bundesrepublik Deutschland ganz wesentlich beigetragen hat.

Also man muss die Ambivalenz verstehen. Ich meine, als junger Mann war ich da sehr auf Abrechnung und Konfrontation orientiert, heute, über 60, versuche ich mehr sozusagen zu verstehen, warum dieses Land Deutschland sich dann so erfolgreich herausarbeiten konnte, sodass wir heute eine stabile bewundernswerte Demokratie haben. Und auch, wie unser Land sich zu seiner Vergangenheit stellt – habe ich gerade als Außenminister auch immer wieder mitbekommen –, ist ein eindeutiges Plus, das uns hoch angerechnet wird.

Aber es bleibt die Ambivalenz. Es gibt eben dann gleichzeitig diesen Versuch, von bestimmten Dingen nichts mehr wissen und hören zu wollen, und das war im Auswärtigen Amt tatsächlich in dieser Frage der Nachrufe zugespitzt und bedurfte einer Klärung. Diese Klärung ist jetzt durch die Historikerkommission geschaffen worden. Da wird es viel Genörgel geben, da wird versucht, weiter dort Rechtfertigung zu machen und doch noch was zu retten, was nicht zu retten ist, aber das Gewicht dieses Berichts der Historikerkommission ist so groß, das kriegt keiner mehr weg.

Müller: Als Sie 1998 Außenminister wurden, da waren mehr als 50 Jahre seit Kriegsende vergangen. Eine Tradition haben wir gerade besprochen, nämlich die Würdigung im Amtsblättchen, die muss sein offensichtlich im Auswärtigen Amt. Aber was haben Sie noch von alten Traditionen wahrgenommen, was gab es da noch?

Fischer: Ich war zum Beispiel erstaunt, also das Deutsche Reich wurde ja aufgelöst, hörte auf, staatsrechtlich und völkerrechtlich zu existieren. Das Auswärtige Amt existierte ebenfalls nicht mehr. Es wurde neu gegründet 1951. Das heißt, auf der Ministeretage finden Sie als ersten Außenminister den damaligen Bundeskanzler, der in der Personalunion Außenminister war, Konrad Adenauer – und das ist auch richtig so. Ich war dann schon erstaunt, in der Protokollabteilung seit Bismarck alle Protokollchefs zu sehen, auch die von Ribbentrop und aus der nationalsozialistischen Diktatur. Ich habe das ehrlich gesagt nicht verstanden, dann auch abgestellt. In Botschaften ist es teilweise noch heute so, gehe ich fest von aus, dass es da Kontinuitäten gibt. Das kann nicht sein, das muss geändert werden. Und dieses Amt ist neu gegründet worden aus zwingenden Gründen, und dem muss da Rechnung getragen werden. Ich denke auch, die Eindeutigkeit, das Bekenntnis dazu, was das Amt an Verbrechen mit zu verantworten hat.

Also in der Historikerkommission, wenn Sie das lesen, was mich am meisten erschüttert hat in diesen 800 Seiten, war der Satz, dass die Grenzen zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Reichssicherheitshauptamt, also der Zentrale des Verbrechens, fließend geworden sind. Das war mir so nicht klar. Und wenn Sie sehen, wie eben Botschaften und Generalkonsulate etwa in Jugoslawien, Griechenland, Frankreich, aber auch Benelux dort agiert haben, wie sie in dem besetzten Europa, wo die staatliche Unabhängigkeit noch galt, also in Frankreich und an anderen Stellen, wie die dort aktiv am Holocaust beteiligt waren und wie zum Beispiel eine Figur wie Achenbach, ein späterer FDP-Politiker, nie dafür belangt wurde, für seine Beteiligung, wenn Sie das alles sehen, dann bekommen Sie natürlich eine Nähe.

Es war auch nie so, dass das Reichssicherheitshauptamt der SS per Weisung dort tätig wurde und die dann zur Mittäterschaft gezwungen wurden, sondern es wurde Einvernehmen hergestellt. Es wurde gefragt, habt ihr was dagegen. Die Antwort war in der Regel nein, und es ging rein bis in organisatorische Kooperationen. Wenn zum Beispiel ein notorischer Täter in Diplomatenuniform – Rademacher, der Leiter des Judenreferats im Auswärtigen Amt damals – auf seine Begründung für eine Dienstreise draufschreibt, dass die Begründung ist Liquidation von Juden in Belgrad für eine Dienstreise, also offensichtlich gab es da gar kein Geheimnis, das schrieb man in den Dienstreiseantrag rein und dachte, das ist okay so.

Ich meine, das sind alles Dinge, da wird es einem natürlich leicht übel. Und das nach wie vor zu rechtfertigen, anstatt zu sagen, das ist die Realität und heute ist die Realität eine ganz andere, das kann ich immer noch nicht verstehen, ehrlich gesagt.

Müller: Aber woran liegt das? Ist das ein Korpsgeist, der sich da über Jahrzehnte gehalten hat in dem Hause? Ich meine, als Sie als Bündnisgrüner, ausgestattet mit einer für das Haus ja wirklich ungewöhnlichen Biografie, dort auftauchten, waren Sie ja ein extremer Außenseiter. Wie haben Sie das erlebt, wie sind die Leute Ihnen da begegnet?

Fischer: Na, ich bin es gewöhnt, Außenseiter zu sein und weiß mich durchzusetzen – es war für mich nichts Neues. Ich habe sehr gut mit sehr vielen zusammengearbeitet, und es sind ja teilweise auch hervorragende Leute, aber eben nicht nur. Dennoch, die Leistungen, die der diplomatische Dienst, der auswärtige Dient bringt, sind sehr groß, und ich könnte ihn nicht machen. Die Belastung für die Einzelnen sind gewaltig, eine sehr, sehr große Herausforderung, also besteht da überhaupt kein Anlass, das nicht zu würdigen und auch zu respektieren.

Auf der anderen Seite ist es kein Anlass für Standesdünkel. Und ich denke, da muss man jetzt in Ruhe und mit einigem Abstand dann anfangen, darüber nachzudenken. Aber zum Beispiel die Frage, also was mich schon erschüttert hat, ist auch die Rolle, die das Archiv spielt, und wenn ich heute etwa die "FAZ" lese, geht das ja gerade so weiter.

Müller: Das ist das politische Archiv im Auswärtigen Amt.

Fischer: Ja, dass offensichtlich da wieder aus dem Archiv irgendwas benutzt wird, um eine Mitarbeiterin, die das Ganze zum Rollen gebracht hat, die Glaubwürdigkeit zu attackieren oder den verstorbenen Generalkonsul Nüßlein, der nun wirklich – um es diplomatisch zu formulieren – tief verstrickt war in die nationalsozialistischen Verbrechen, man könnte auch sagen, der Blut an den Händen hatte, da versuchen weißzuwaschen, da geht das so nicht weiter.

Und ich frage mich, warum das Archiv nicht wie überall sonst die Akten beim Bundesarchiv abgibt. Selbst das Kanzleramt lässt seine Akten dort führen, und das Bundesarchiv ist die Institution, die auch über jeden Einflussversuch erhaben ist, da können Sie so etwas gar nicht machen. Das wäre zum Beispiel ein Punkt, der unbedingt angegangen werden sollte.

Müller: Also heißt das, dass vielleicht auch bei der Rekrutierung neue Wege gegangen werden müssen? Also mir scheint doch, dass das sozusagen…

Fischer: Das hat der Minister angekündigt, also dass das eben in die Diplomatenausbildung einfließen soll. Ich denke, da wird man, wenn der Minister da seine Vorstellungen auf den Tisch legt, in Ruhe drüber diskutieren können. Minister Westerwelle hat ja angekündigt, dass es ein gewichtiges Werk ist, das in die Diplomatenausbildung einfließen soll, und wenn das ernst gemeint ist, wird das Konsequenzen haben.

Müller: Heute ist allerdings auch in der "SZ" zu lesen, dass das Auswärtige Amt seit Februar bereits wieder NS-belastete Beamte würdigt, nur die Formulierung "ehrendes Andenken" wird nicht verwendet. Was sagen Sie dazu?

Fischer: Ich kenne die Erlasslage nicht, das will ich jetzt nicht kommentieren, muss man sich genau anschauen, wie die Sache ist. Für mich ist der Maßstab, ob der Fall Krapf, den Sie ja eingangs erwähnt haben, ob das zu einem ehrenden Andenken geführt hätte oder nicht, denn Herr Krapf war nicht nur NSDAP-Mitglied, sondern er war Mitglied der SS oder im SS-Hauptamt geführt – und das wäre natürlich dann schon ein Ding. Insofern, also bevor ich das nicht genauer weiß, kann ich das nicht kommentieren.

Müller: Sie haben vor sechs Jahren daran gerührt, an vielen dieser Geheimnisse und dieser Geschichten, 22 Jahre vor Ihnen war Willy Brandt als ehemaliger Emigrant und Widerständler Außenminister. Der hat die problematische Geschichte des Amtes nicht angerührt, was ihm jetzt übrigens von SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier fast ein wenig vorgehalten wird. Was sagen Sie dazu?

Fischer: Nein, also wenn ich Steinmeier richtig lese, hält er das nicht vor, sondern er benennt das, was ich auch richtig finde. Aber man muss natürlich die Situation der SPD damals auch verstehen. Also Brandt, im ersten Wahlkampf, den er als Kanzlerkandidat der SPD führte, da wurde er attackiert. Nicht nur, dass er Emigrant war und in fremder Uniform – da wurde ihm entgegengehalten von seinem CDU-Gegenkandidaten: Ich habe gewusst, was ich in der Zeit gemacht habe –, sondern es wurde auch natürlich vonseiten der Konservativen mit seiner Herkunft Politik gemacht. Er war ein uneheliches Kind, für die SPD und vor allen Dingen für Brandt war es von ganz entscheidender Bedeutung, seine Ostpolitik durchsetzen zu können – das begann in der Großen Koalition. Und dass er da nicht noch sozusagen eine Schlacht aufnehmen wollte in seinem Rücken im Amt, dafür habe ich ein gewisses Verständnis, dennoch ist es wichtig, dass es so benannt wird, und das hat Frank-Walter Steinmeier ja getan.

Müller: Wie sauer waren Sie damals eigentlich über diesen sogenannten Aufstand der Mumien? Also es gibt ja dann Leute, die sagen, der Fischer war so sauer, dass er eben tatsächlich dann diese Historikerkommission eingesetzt hat.

Fischer: Genauso war es.

Müller: Es war wirklich die Reaktion darauf?

Fischer: Ja sicher. Schauen Sie, also ich will es jetzt mal in Alltagsdeutsch ausdrücken: Die wollten mit mir Schlitten fahren, und ich habe gesagt, okay, dann fahren wir.

Müller: Und es wird nach wie vor gefahren, aber ich kann mir vorstellen, dass Sie damals im Hause gelinde gesagt auf eine gewisse Ablehnung stießen.

Fischer: Die Reaktion war durchwachsen, aber darum ging es gar nicht, sondern es war völlig klar, die Bundesrepublik Deutschland hätte schweren Schaden genommen in ihrer Außendarstellung. Wir hätten vertan, was viele über die Jahrzehnte hinweg hier in diesem Land an Aufarbeitung der Vergangenheit erreicht haben. Es ist ja nicht so, dass unser Land sich da was groß vorzuwerfen hätte. Es war ja nicht nur von links, sondern sehr stark auch von der demokratischen Rechten geprägt, deswegen habe ich das alles nicht mehr verstanden.

Ich bin da, ehrlich gesagt, mit großer Naivität, ich dachte, das läge alles hinter uns, Deutschland wäre weiter, als das da mit diesem Nachruf losging. Und vergessen Sie nie: Der Anlass ist ja nachgerade läppisch. Das ist ein Blättchen, AA-intern, wie es in jeder Behörde, Unternehmen oder sonst wo gibt. Aber daraus dann so etwas zu machen, das zeigt meines Erachtens nicht nur eine ziemlich verzerrte Selbstwahrnehmung von einzelnen Angehörigen, sondern auch eine ziemliche Dummheit. Das zeigt aber auch, dass offensichtlich eine bestimmte Generation von Diplomaten – mögen sie noch so hoch sein – nicht sehr weit denken kann. Also mit einem gewissen elitären intellektuellen Anspruch scheint es da nicht weit her zu sein.

Müller: Aufklärung einer dunklen Geschichte – die Studie über das Auswärtige Amt vor und nach 1945 liegt jetzt vor. Das war der Mann, der sie in Auftrag gegeben hat: Joschka Fischer, Bundesaußenminister a.D. Haben Sie vielen Dank!

Fischer: Vielen Dank!
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