Teil 1: Hildegard Wittur

Wie ich wurde, wer ich bin

Hildegard Wittur sitzt auf ihrem Sofa voller Stofftiere
Hildegard Wittur inmitten ihrer Stofftiersammlung © Sandra Merseburger
Von Eberhard Schade · 17.12.2018
Mit 16 versucht sich Hilde das Leben zu nehmen, das DDR-Jugendamt steckt sie in die Psychiatrie - 25 Jahre lang. Dann kommt die Wende, und Hilde will raus. Endlich ihr Leben selbst bestimmen.
Natürlich muss Hilde mit aufs Bild, den Videogruß der Museumspädagogen aus sieben europäischen Ländern. Die wollen voneinander lernen, wie man am besten Lernbehinderte in Zeichen- und Mal-Workshops integriert. Und da darf eine wie Hilde nicht fehlen.
Die kleine Frau mit der heiseren Stimme weiß, wann genug Farbe auf der Plexiglasscheibe ist und wie man sie am besten verteilt. Dann mit Schabern und dicken Buntstiften Muster reinritzt, und am Ende einen Abdruck nimmt. Seit Jahren ist das ihr Hobby, ist sie Mitglied einer Kunstwerkstatt der Lebenshilfe, einer Organisation, die Menschen mit Beeinträchtigungen unterstützt. Hilde malt dort Bilder und bringt anderen in workshops bei, wie man druckt.

Hilde, die Rampensau

Allein durch diesen Perspektivwechsels, sagt ihr Betreuer, sind die workshops der absolute Renner. Hilde kriegt sie alle, sagt er. Sie ist eine richtige Rampensau. Zuletzt beweist sie das auf der Abschlusskundgebung einer riesigen Demo für Teilhabe in Berlin. Dort spricht Hilde im Oktober vor mehr als 100.000 Teilnehmern.
"Oh, vor so vielen Menschen, habe ich leise vor mich hin gesprochen, das schaffst du. Das musst du schaffen, Hilde. Ich drück mir die Daumen. Und ich hab´ das sehr schön gesagt. Da kam ein ganz großer Applaus, da haben die Leute angefangen zu schreien. Da ist es mir eiskalt runtergegangen, wirklich wahr."
Hildegard Wittur hat ihre Hände in Farbe getaucht
Hilde macht Quatsch: Hier bei einem Mal-workshop © Eberhard Schade
Dass jeder Mensch Lob und Anerkennung braucht, erfährt Hilde erst sehr spät in ihrem Leben in der DDR. Dass sich Menschen für sie einsetzen, sie fördern und nicht immer nur austeilen, sie behindern. Die Mutter trinkt und schlägt ihre Kinder. Bis eines Tages die Polizei vor der Tür steht, Hilde und ihre sechs Geschwister abholt.
"Das war noch in der Blankenburger Straße, da haben wir gewohnt. Da haben sie uns Decken umgewickelt und in den Lastwagen rein. Da haben wir geweint und geschrien. Und dann sind wir verteilt worden."

Geborgenheit im Kinderheim

Hilde kommt in ein Kinderheim nach Dresden. Weil es dort gut und regelmäßig zu essen gibt und die Erzieher nett sind, fühlt sie sich geborgen. Sie geht zur Schule, ist beliebt und schon bald der Klassenclown.
"Man muss ja nicht immer brav sein. Nee, das muss man nicht, man muss auch mal ein bisschen kess sein. Sonst hat man ja vom Leben nüscht."
Mit 13 Jahren muss Hilde zurück nach Berlin, zu ihren Eltern. Wenig später stirbt ihr Vater, ihre Mutter trinkt und schlägt weiter. Nichts ist jetzt mehr so wie in Dresden.
"Wir haben kein Frühstück gehabt, kein Mittag gehabt und wir hatten Hunger!"
Als dann noch ihre beste Freundin und die geliebte Oma sterben, versucht Hilde zweimal sich das Leben zu nehmen. Beim ersten Mal rettet sie ein Nachbar. Beim zweiten Versuch fährt sie – benebelt von Tabletten – zum Jugendamt, zu ihrem Betreuer.
"Und dann kam er runter, hat mich geholt und ich sage: so Herr Simon, wenn du jetzt nicht irgendwas machst, dann hast du mich nicht mehr. Und da hat er Schiss gekriegt."

25 Jahre weggesperrt

Hilde ist damals 16, kann lesen und schreiben, nur mit Zahlen kommt sie immer durcheinander. Das reicht für den Vermerk "verhaltensauffällig" in ihrer Akte. Das Jugendamt steckt sie in die Psychiatrie. Als sie versucht von dort wegzulaufen, sperrt der Staat sie weg, verlegt sie in die Geschlossene. Dort bleibt Hilde 25 Jahre. Hier bekommt sie immer mehr kleine Aufgaben, hat den Status einer DDR- Hilfsschwester. Ein Tag ist wie der andere, die Geschlossene wird für sie zum Schutzraum. Baut sie aber Mist, muss sie zur Strafe in den Bunker, einen kleinen fensterlosen Raum oder wird mit dem Kopf unter Wasser gedrückt.
Dann kommt die Wende. Hilde ist jetzt Anfang 40 und will raus. Schreibt einen Brief an Berlins Regierenden Bürgermeister, in dem steht, dass sie viel lieber im benachbarten Pflegeheim arbeiten will. Aber auch, dass man sie unter Wasser stuckt und einsperrt. Denn sie spürt: nicht sie war all die Jahre krank, sondern das System.
"Dann habe ich gesagt. Du hast es geschafft. Aber ich möchte auch mal einmal eine schöne Wohnung haben – alleine. Und so schön machen wie ich will."
Sie bekommt den Job, zwei Jahre später vermittelt ihr die Lebenshilfe einen WG-Platz. Von da an geht Hilde raus und lebt. Zieht später in ihre erste eigene Wohnung zusammen mit gefühlt 200 Stofftieren und einem echten Papagei.

Theater, Tango und Ehrenamt

Sie spielt Theater, tanzt Tango, probiert alle möglichen Dinge aus und schmeißt sie wieder hin, weil sie jetzt endlich selbst entscheiden kann, was sie will und was nicht. Ihre Familie? Abgehakt, sagt sie. Ihre neues Zuhause ist ihr Kiez in Kreuzberg. Dort dreht sie jeden Tag ihre Runde, schmiert ehrenamtlich Brötchen im Café um die Ecke. Nur dienstags nicht. Denn da geht sie malen.
Auf die Frage, ob sie heute, mit mittlerweile 70, endlich glücklich ist, antwortet Hilde wie immer: spontan.
"Und wie! Überglücklich bin ich!"

David Permantier (Hrsg.): "Wie ich wurde, wer ich bin", erhältlich beim Elternverein Zukunftssicherung Berlin e.V.