Technische Probleme beim Scannen und Digitalisieren

Steht die Rekonstruktion der Stasi-Akten vor dem Aus?

Zerrissene Stasi-Unterlagen hält ein Mitarbeiter des Fraunhofer Instituts in Berlin im Jahr 2007 vor bereits gescannte und an die Wand projezierte Stücke.
Reißwölfe und Papiermühlen liefen in den Wendewirren Ende 1989 auf Hochtouren. © picture alliance / dpa / Stephanie Pilick
Von Silke Hasselmann · 07.03.2018
Gut 16.000 Säcke mit Aktenschnipseln der Stasi retteten Bürgerrechtler am Ende der DDR vor der endgültigen Vernichtung. Mit Hilfe modernster Computertechnik wollte die Stasi-Unterlagenbehörde die Akten rekonstruieren, doch das Projekt droht zu scheitern.
Schwerin am Bleicherufer. Zu Besuch in der Stasi-Unterlagenbehörde von Mecklenburg-Vorpommern.
"Na, wollen wir mal gucken, was wir da haben."
"Ich bin als Zersetzer geführt worden."
Das ist Heiko Lietz, zu DDR-Zeiten Pfarrer in Güstrow und Subjekt der staatlichen Überwachungsbegierde. Dass das Ministerium für Staatssicherheit einen sogenannten "Zersetzungsplan" gegen ihn ausgearbeitet hatte, weiß er aus jenen Stasi-Akten, die er bereits 1993, also vor 25 Jahren, zu Gesicht bekommen hatte.
"In dem Augenblick war ich in eine Welt eingetaucht, die so massiv auch mich beeinflusst oder mich geprägt hat, ne."
Was er damals erfuhr, etwa dass der Küster ihn bespitzelt hatte, war schon schlimm. Doch seine Akten waren offenkundig nicht vollständig. Denn dass die Staatssicherheit ausgerechnet zum Ende der DDR hin das Interesse an dem systemkritischen Pfarrer verloren haben soll, ist unwahrscheinlich.
Kein Einzelfall, sagt Anne Drescher. Sie ist Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern, also der damaligen DDR-Bezirke Rostock, Neubrandenburg und Schwerin.
"Wir haben z.B., wenn wir jetzt gucken auf die Akteneinsichtsanträge von Oppositionellen, Menschen, die sagen, sie waren 1988/89 sehr aktiv gewesen und sind beobachtet worden, sind zugeführt worden, hatten Festnahmen erlebt, Befragungen - das muss sich doch irgendwie in ihrer Akte widerspiegeln. Und sie stellen eine Antrag und es kommt die Information: `Es ist nichts vorhanden zu Ihnen. `Anzunehmen ist natürlich, dass so etwas sich in diesen Säcken mit den vorvernichteten Materialien noch befindet. Das sind ja Millionen Blatt, auf denen die unterschiedlichsten Informationen stehen können."
Anne Drescher, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern
Anne Drescher, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern© Silke Hasselmann

Opfer verlangen Akteneinsicht

Auch deshalb begehren über ein Vierteljahrhundert nach dem Untergang der DDR noch immer Menschen Akteneinsicht und Schicksalsklärung - etwas mehr als eintausend allein voriges Jahr in Mecklenburg-Vorpommern. Doch einige MfS-Bezirksdienststellen seien mit der Aktenvernichtung gründlicher gewesen als andere, erklärt Anne Drescher.
"In Schwerin gibt es keine zerrissenen Unterlagen mehr. Also da ist nur wenig gefunden worden. Ein Sack, und der ist inzwischen zum Puzzeln abgegeben worden. Die Neubrandenburger Außenstelle hat wesentlich mehr Material gefunden. Das hängt aber auch damit zusammen, dass in den einzelnen Bezirksverwaltungen unterschiedliche Geräte zur Verfügungen standen. Hier in Schwerin gab es mehrere Reißwölfe, wo die dann Materialien geschreddert haben oder an die Papiermühle abgegeben haben zum Vernichten, so dass wir hier vorzerrissene Akten nicht so in dem Umfang zur Verfügung hatten."
Im bayrischen Zirndorf hatten Bundesbedienstete Mitte der 90er-Jahre damit begonnen, erste Säcke zu bearbeiten. Sie breiteten die jeweils rund 3000 darin befindlichen Schnipsel wie ein gigantisches Puzzlespiel vor sich aus und versuchten dann, die Originalakte zusammenzusetzen. Im neuen Jahrtausend angekommen, schlummerten noch immer ca. 45 Millionen zerrissene Stasi-Dokumente in rund 15.500 unbearbeiteten Säcken. Doch nun sollte es endlich schneller gehen.

Neues Verfahren sollte die Zusammensetzung beschleunigen

2008 präsentieren die Stasi-Unterlagenbehörde und das Berliner Fraunhofer Institut ein 13-minütiges Pressevideo. Die Botschaft: Hier soll in den kommenden Jahren eine weltweit einzigartige Technologie zur Anwendungsreife gebracht werden.
"Ein neues Verfahren macht die zeitnahe Wiederherstellung aller Akten möglich: die virtuelle Rekonstruktion. Nach erfolgreichen Laborversuchen tritt das Projekt in die Pilotphase. Säcke mit zerrissenen Stasi-Unterlagen werden an das `Fraunhofer Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik` in Berlin geliefert."
Dort sollen sich die Entwickler laut einem Bundestagsbeschluss zunächst 400 Säcke vornehmen und beweisen, dass ihr Verfahren massentauglich ist. Die Idee:
"Die Fragmente werden schichtweise aufgenommen. Der verwendete Scanner verfügt einen schnellen Einzugsmechanismus und erfasst Vorder- und Rückseite in einem Durchgang. Der Scanner liefert scharfe und farbechte Bilddateien in hoher Auflösung. Die aus diesen digitalen Abbildern berechneten Merkmale wie Konturen, Beschriftung, Linienverläufe und Papierfarbe ermöglichen später die virtuelle Rekonstruktion der Fragmente zu vollständigen Dokumenten."
Eine Computersoftware namens "ePuzzler" sollte in dem digitalen Archiv zueinander passende Fragmente suchen und sie dann am Bildschirm zusammensetzen, erzählte zu zuständige Leiter der Abteilung Sicherheitstechnik am Berliner Fraunhofer Institut, Dr. Bertram Nickolay.
"Ich habe vor Jahren hier ein Team gegründet, das beschäftigt sich mit der Automatisierung von visuellen Prozessen. Also Maschinen-Sehen. Und als wir Medienberichte gelesen haben - wir wurden auch von befreundeten Leuten, die in der DDR verfolgt worden waren, auf diese Thematik angesprochen -, dass man per Hand diese Schnipsel zusammensetzt, da war das natürlich klar für mich und mein Team: Das ist DIE Herausforderung für die Automatisierung von visuellen Prozessen!"
Stasi-Akten in der Außenstelle Rostock des BStU 
Akten der Staatssicherheit der DDR im Originalzustand in der Außenstelle Rostock des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen (BStU).© picture alliance / dpa / Foto: Bernd Wüstneck/ZB

Den Stasi-Opfer läuft die Zeit davon

Was in den Säcken liegt? Jedenfalls keine Urlaubsanträge, Essenspläne oder Materialbeschaffungsformulare, weiß Anne Drescher. Die Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen in Mecklenburg-Vorpommern verweist vielmehr auf wiederhergestellte Akten über die in der DDR untergetauchte RAF-Terroristin Silke Maier-Witt, aber auch über bekannte Oppositionelle wie Robert Havemann, Jürgen Fuchs, Stefan Heym. Überhaupt, so Anne Drescher:
"Es sind Berichte von Inoffiziellen Mitarbeitern gefunden worden, die sehr dazu beigetragen haben, politische Verfolgung für Bürger der DDR zu belegen. Es sind Materialien gefunden worden von der Ausspähung der Friedensbewegung Ost und West. Also Dinge, die uns helfen zu verstehen, was an Verfolgungsmaßnahmen vom Ministerium in Auftrag gegeben und durchgeführt wurde gegen Menschen, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung engagiert haben."
Nach aktueller Gesetzeslage können Stasi-Opfer noch bis Ende 2019 Ansprüche auf eine Opferentschädigung bzw. -rente geltend machen. Dafür müssen sie freilich Nachweise liefern, und wessen Akte bislang nicht gefunden bzw. unvollständig ist, kann auf die Schnipselsäcke hoffen. Das gilt auch für eine andere Opfergruppe. Allerdings soll die Frist hier bereits Ende dieses Jahres auslaufen.
Beratungsgespräch in der Schweriner Außenstelle der Stasi-Unterlagenbehörde: Eine ehemalige DDR-Turnerin ist mit einem Verdacht gekommen: Sie habe schon als Minderjährige in ihrem Sportclub blaue Pillen zum Frühstück schlucken müssen - unter Aufsicht des Trainers. Heute ist sie sich sicher, dass das das verbotene Dopingmittel Oral-Turinabol gewesen ist. Sie vermutet einen Zusammenhang zu ihren Fehlgeburten und zu vielen schweren wie rätselhaften Erkrankungen. Ob sich vielleicht in Stasi-Akten Hinweise dafür finden ließen, dass sie - wie viele andere junge Leistungskader - unwissentlich gedopt worden war?
"Was erhoffe ich mir von diesem Termin? Also erst mal bin ich überhaupt erstaunt, dass es heute noch Möglichkeiten gibt, an irgendwelche Unterlagen heranzukommen. Erhoffen tue ich mir davon eigentlich, dass für mich Wege finden kann, besser mit meinen ganzen Erkrankungen umzugehen. Und – tja, dass man einfach was dagegen tut, dass Menschen ohne ihr Wissen gedopt werden."
Zwar verantwortete der Sportmedizinische Dienst das geheime Dopingprogramm von 1974 bis 1990, erklärt Anne Drescher. Doch das Ministerium für Staatssicherheit hatte viele wachsame Augen darauf, und so mancher Trainer, Arzt oder Sportler erzählte in informeller Mitarbeit auch das Eine oder Andere über die Dopingpraxis in ihrem Beritt.
"Um eine Anerkennung zu bekommen oder einen Beleg zu haben, dass sie wirklich durch unterstützende Mittel - in sehr früher Kindheit vielleicht - geschädigt wurden, müssen sie ja nachweisen, dass sie dann und dann diese Mittel bekommen haben. In vielen Fälle, wo die Sportler nicht belegen konnten, dass sie diese Mittel bekommen haben, haben wir die Gegenprüfung von der anderen Seite, indem die Verantwortlichen in diesem Sportbereich Auskunft in diesen Gesprächen - den Akten, wo das dokumentiert ist, konnten wir das entnehmen - , dass diese Mittel eingesetzt wurden. Und wenn wir aber einen Beleg dafür haben, dass dieses in dieser Form so ausführlich in dieser Sportart oder in diesem Sportclub oder durch diesen behandelnden Arzt so angewandt und diese Mittel so eingesetzt wurden, dann haben wir ja einen Beleg für den einzelnen Sportler und müssen nicht mehr diesen Einzelbeweis antreten."
Roland Jahn, der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen der ehemaligen DDR spricht am 21.03.2017 in Berlin bei der Vorstellung des 13. Tätigkeitsberichts seiner Behörde. 
Roland Jahn, Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen der ehemaligen DDR© dpa/ picture alliance/ Michael Kappeler

Zur Zeit keine Rekonstruktion

Umso wichtiger sei es, die Schnipselsäcke "mit allen verfügbaren Mittel" aufzubereiten - auch mithilfe der virtuellen Rekonstruktion, sagt Anne Drescher. Sie ist sich darin einig mit den anderen fünf Landesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, die Mitte Januar eine gemeinsame Erklärung formulierten. Der Anlass? Eine eher beiläufige Mitteilung vom Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, die er nun auf Nachfrage gegenüber Deutschlandfunk Kultur bestätigt:
"Es findet zur Zeit keine virtuelle Rekonstruktion statt."
Schon das massenhafte automatisierte Scannen und Digitalisieren der Schnipsel funktionierte nicht wie erhofft. Bis 2014 hätte Fraunhofer nur 23 der angepeilten 400 Säcke geschafft. Bereits seitdem würden keine Papierfragmente mehr für das Digitalarchiv gescannt, räumt Roland Jahn ein:
"Es hat sich gezeigt, dass die Technik der herkömmlichen Scanner, die auf dem Markt waren, nicht ausreicht, hier im größeren Umfang diese Schnipsel zu digitalisieren und dann für den Prozess der virtuellen Rekonstruktion zur Verfügung zu stellen. Und diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass die Digitalisierung gestoppt worden ist."
"Das ist natürlich ein alarmierender Vorgang und auch ein echtes Politikum. Es ist ja bekannt: Seit 1995 wird gepuzzelt. 523 Säcke sind zusammengesetzt. 15.500 sind noch unerschlossen. Wenn man das hochrechnet, sind wir in etwa 600 Jahren mit den Säcken so weit. Es dürfte also jedem klar sein, dass das nicht hinzunehmen ist."
Das sagt Ines Geipel, ehedem zwangsgedopte Spitzensprinterin und heute Vorsitzende des Dopingopfer-Hilfevereins.
"Aktuell läuft das 2. Dopingopfer-Entschädigungsgesetz. Die Opfer kämpfen händeringend um ihre Akten. Es geht um Belege, es geht um Klarheit. Es geht um die jeweils individuelle Geschichte. Und schon von daher ist in keiner Weise nachvollziehbar, dass das Argument für den Stopp die zu geringe Leistungsfähigkeit von Scannern ist. Technik kann hier kein Argument sein und auch nicht das Geld. Es tauchen Jahr für Jahr Millionen SED-Gelder auf. Und genau die wären doch gut eingesetzt, um den Opfern zu helfen zu ihren Geschichten zu kommen."
Die Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, Ines Geipel.
Die Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfe-Vereins, Ines Geipel.© dpa-Bildfunk / Rainer Jensen

Ein kostspieliges Verfahren

Tatsächlich hatten die Scanner vor allem Probleme damit, kleine Schnipsel mit gleichartigen Risskanten voneinander zu entscheiden. Die aber gibt es zuhauf, weil stets mehrere übereinanderliegende Blätter in einem Rutsch zerrissen worden waren. Außerdem weiß die Stasi-Landesbeauftragte in Mecklenburg-Vorpommern, Anne Drescher:
"Die Hauptarbeit besteht darin - und das was die meisten Zeit kostet -, diese Schnipsel so vorzubereiten, dass der Computer sie erfassen kann. Die einzelnen Zettel, die aus den einzelnen Säcken herausgenommen werden, müssen gesäubert, geglättet und in Folientaschen eingelegt werden. Und das ist noch nicht maschinell möglich. Unsere Vorstellung ist ja, dass man einen Sack nimmt und oben die ganzen Schnipsel in einen Trichter reinschüttet, und unten kommt die fertige Akte raus. So weit sind wir natürlich noch nicht mit der Technik."
Bis 2014 sind sechs Millionen Euro in das Projekt geflossen. 2015 beschloss der Deutsche Bundestag einen Zuschlag in Höhe von zwei Millionen Euro für die Weiterentwicklung der Scan-Technologie. Bis heute hat der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen diese Mittel nicht abgerufen. Roland Jahn erklärt, seine Behörde werde ihrem gesetzlichen Auftrag nachkommen und die Akten des Ministeriums für Staatssicherheit bewahren und aufarbeiten. Doch er habe in Sachen virtueller Aktenrekonstruktion bereits den Bundesrechnungshof im Haus gehabt und wolle selbst auch "Steuergelder verantwortungsbewusst einsetzen". Das heiße für die Zukunft:
"Wir sind dabei, auf Grundlage eines neuen Konzeptes mit Fraunhofer Gesellschaft einen neuen Vertrag abzuschließen. Wir wollen, dass die Rekonstruktion weitergeht, und dass wir hier das Prinzip der virtuellen Rekonstruktion nutzen können, um unser Archiv weiter zu erschließen."
Zumal sich derzeit einige ostdeutsche Länder im Bundesrat dafür einsetzen, die Rehabilitierung von DDR-Unrechtsopfern zu entfristen. Doch die Wiederherstellung zerrissener Stasi-Akten ist praktisch zum Erliegen gekommen. Die Stasi-Unterlagenbehörde musste 2015/16 viele Mitarbeiter an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgeben. Derzeit, so Roland Jahn, seien nur einige wenige Mitarbeiter damit beschäftigt, per Hand Papierschnipsel zu sortieren und zusammenzusetzen.

Wichtige Quellen werden nicht erschlossen

Dabei fehlen vor allem Dokumente aus den beiden letzten DDR-Jahren, die in den Wendewirren vermutlich noch als Handakten in den Büros der MfS-Mitarbeiter standen und durch Zerreißen vorvernichtet wurden. Eine wichtige Quelle auch für Wissenschaftler, meint Ines Geipel. Sie forscht im Rahmen eines von Mecklenburg-Vorpommern finanzierten Promotionsstipendiums an der Uni Rostock über Menschenversuche im Zusammenhang mit dem DDR-Leistungssport.
"Was wir brauchen, sind Belege für die Forschungsallianzen von Ost und West, für die Forschungsallianzen zwischen dem Militär - also der NVA - und dem DDR-Sport, zwischen der Pharma-Industrie und dem DDR-Sport. Also im Grund das, was mit der kriminellen Forschung am Athleten zusammenhängt. Da wir davon auszugehen haben, dass der DDR-Geheimdienst eh nur ein halbes Gedächtnis hinterlassen hat, also die Hälfte der Akten im Herbst 1989 physisch vernichtet wurde, ist doch klar, dass die Erschließung dessen, was noch existiert in diesen 15.500 Säcke, umso wichtiger ist. Der Stopp der Aktenaufarbeitung aber wäre genau das: hochgradiger Täterschutz."
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