Techfirmen auf dem Prüfstand

Die Entzauberung des Silicon Valley

29:26 Minuten
Abendstimmung: im Vordergrund goldene Hügel mit Bäumen, im Hintergrund Häuser und das Meer.
Einst war das Silicon Valley Sinnbild für den Traum von einer schönen, neuen, digitalen Welt. Heute ist der Glanz verblasst. © Imago / Dreamframer
Von Vera Linß · 25.03.2021
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IT-Unternehmen wie Facebook oder Google versprachen eine schöne neue Welt: hierarchiefreies Arbeiten, einen besseren Kapitalismus, mehr demokratische Teilhabe. Mittlerweile ist der Traum ausgeträumt – hat sich bisweilen sogar ins Gegenteil gekehrt.
Silicon Valley. Ein Name, der Glanz ausstrahlt. Ein Versprechen auf die Zukunft. Was von dort kommt, dachte ich lange, wird das Leben verbessern und die Gesellschaft revolutionieren. Mehr wissen, schneller kommunizieren, effizienter arbeiten, weniger Ressourcen verschwenden. Mehr Demokratie, weniger Staat. Dazu neue Geräte: Tablets, Smartphones, Smart-Watches – leicht, bunt, lustig. Einfach modernes Lebensgefühl pur!
Im Silicon Valley zu arbeiten, dachte ich, muss etwas Besonderes sein. Man zählt zu den Pionieren einer neuen, guten Zeit, die – natürlich – digital ist. Die Namen der Städte klingen nach Aufbruch: San Francisco, Mountain View, Stanford. Heimat von Apple, Facebook, Google, eBay, Airbnb, Tesla – den mächtigsten Techkonzernen der Welt.
Als ihre Keimzelle gilt die Universität Stanford im Silicon Valley. Ihr Motto: "Die Luft der Freiheit weht." Die Gründer von Google, YouTube und PayPal haben dort studiert. Ebenso der Erfinder des Ethernets, einer kabellosen Übertragungstechnik, auch Steve Ballmer von Microsoft und die Vorstandsvorsitzende von Yahoo, Marissa Mayer. Unter anderen.

Ein Tal der toten Träume?

Ich selbst war noch nie in der Gegend. Von dem Glanz, sollte es ihn je gegeben haben, ist offenbar nicht viel geblieben. "Tal der toten Träume" hat der Journalist Stefan Beutelsbacher seinen Artikel überschrieben. Ich finde ihn Ende Februar in der "Welt". Sein Fazit: "Eine Region im Niedergang".
"Nun, so scheint es, ist das Silicon Valley am Ende. Im Jahr 2019 zogen 50.000 Amerikaner aus der Bucht von San Francisco fort. 2020 waren es sogar 90.000."

Rund 30.000 Obdachlose werden in der Gegend gezählt. Eine Familie mit zwei Kindern und weniger als 120.000 Dollar Jahreseinkommen gilt als arm. Die Mieten steigen. Verschwunden scheint das Start-up-Gefühl – die Euphorie, mit ständig neuen, kreativen Ideen die Welt zu verändern, gemeinsam mit vielen anderen.
Jeanette Hofmann ist Politikwissenschaftlerin am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Sie gehört zu Deutschlands renommiertesten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die erforschen, wie die Digitalisierung die Gesellschaft verändert. In Stanford war die Professorin zuletzt vor zwei Jahren. Ihr Eindruck vom Ort: befremdlich.

"Ich bin immer wieder schockiert, dass Leute mit viel Geld dort freiwillig leben wollen, weil: Die Umgebung ist derart steril. Das Leben ist so reduziert. Es gibt ein paar Highways, die da durchgehen, und dann so ein paar kleine Restaurants. Palo Alto hat so ein bisschen – man kann das nicht mal Innenstadt nennen. Kulturell ist da nichts. Es ist so enttäuschend. Das Schönste eigentlich sind die Sonnenuntergänge, würde ich sagen."
Eine Gruppe jugendlicher Mitarbeiter stehen vor dem Eingang von Google im Silicon Valley
Jugendliche Hipster arbeiten bei Google oder anderen IT-Firmen – und machen die Welt besser: So der Mythos des Silicon Valley.© Imago / UIG

Nüchterner Blick auf das Silicon Valley

Der Blick auf das Silicon Valley ist nüchterner geworden. Ein Umdenken hat eingesetzt. Längst werden die digitalen Erfindungen der US-Westküste kritisch betrachtet: Facebook unterläuft den demokratischen Diskurs. Amazon schmeißt Angestellte raus, die sich organisieren wollen. Airbnb ruiniert die Innenstädte. Google und Apple – Datenkraken wie all die anderen Techunternehmen – sind Überwachungsapparate.
Aber – es hat gedauert, bis die Euphorie über die schöne neue digitale Welt verklungen ist. Ich frage mich, wann sie eingesetzt hat, die Entzauberung des Silicon Valley.

Ein Gesetz für die Techkonzerne

November 2020: Neben der Wahl des US-Präsidenten haben die Einwohner Kaliforniens noch eine zweite Entscheidung zu treffen. Zur Abstimmung steht das Volksbegehren "Proposition 22". Mit dem Antrag soll das Arbeitsrecht zugunsten der großen Techkonzerne verändert werden.
Vorausgegangen war ein Prozess, an dessen Ende der Oberste Gerichtshof das Fahrdienst-Unternehmen Uber dazu verpflichtet hatte, sein Geschäftsmodell komplett umzustellen. Uber müsse seine Fahrer nicht mehr wie Selbstständige, sondern wie Mitarbeiter behandeln, sprich: fest anstellen. Dieses Urteil soll jetzt in der Volksabstimmung, die Uber und andere Start-ups unterstützen, gekippt werden.
Und wird es auch. Mehr als 200 Millionen Dollar hatten neben Uber auch Unternehmen wie Lyft, das ebenfalls Fahrdienste vermittelt, und der Lieferservice Instacart in eine Kampagne gesteckt, damit die Wählerinnen und Wähler im Sinne der Techkonzerne entscheiden. Der Plan ist aufgegangen.

"Da war absolut der Lack ab. Es war fadenscheinig. Die wollten das Gesetz ihrem Willen anpassen, genau wie ein Tabak-Unternehmen oder Pharma-Riese auch. Und das war auch irgendwie ein Eingeständnis: Wir sind jetzt wie die anderen. Wir sind wie BP. Wir sind wie GM. Wir sind nicht mehr anders. Der Anspruch, eine ganz andere Art Industrie zu sein, hätte denen da nichts gebracht – und sie haben ihn deswegen auch gar nicht erst zur Anwendung gebracht", sagt Adrian Daub, Professor für vergleichende Literaturwissenschaft an der Standford University. Daub meint, die "Proposition 22" hat das Fortschrittsgerede des Silicon Valley endgültig als Rhetorik entblößt. Schlusspunkt einer längeren Entwicklung.

"Ich glaube, dass der Prozess, der sich in der öffentlichen Wahrnehmung dieser Branche in den letzten drei bis vier Jahren vollzogen hat, also ungefähr seit der Trump-Wahl, auf eine Entzauberung hinausläuft. Also ich weiß, dass zumindest lokal diese Industrie richtig einen Heiligenschein hatte. Und dass heute meine Studenten, die immer noch in diese Industrie strömen, das durchaus realistischer tun."
Ein Uber-Fahrer lehnt sich aus dem Auto, hupt und streckt die geballte Faust nach oben.
Das Taxi-Gewerbe kaputt machen, dann als Monopolist Geld verdienen: Proteste in Barcelona gegen das Unternehmen Uber.© Imago / Thiago Prudencio

Fake News und Trumps Wahlkampf

Ich erinnere mich gut: Die Wahl Donald Trumps im November 2016 war eine Art Zäsur – ein einschneidendes Beispiel dafür, wie das Silicon Valley seine Versprechen bricht. Den knappen Wahlsieg führten viele darauf zurück, dass Facebook nichts unternommen hatte gegen die unzähligen Fake News, die im Netz kursierten und Trump zuspielten. Die Rede war vom "Facebook-Effekt".
Der IT-Journalist Steven Levy, der die Arbeit des Netzwerks seit 2006 journalistisch begleitet, resümiert 2020 in seinem Buch "Facebook – Weltmacht am Abgrund":
"Der Ansehensverlust des Unternehmens in den Jahren nach der Trump-Wahl 2016 war gigantisch. Das Unternehmen war mit einem glorreich-idealistischen Ziel angetreten: die Welt zu vernetzen. Und Facebook verfolgte dieses naiv utopische – und unleugbar von Eigeninteresse geprägte – Ziel mit einer geradezu tragischen Missachtung der möglichen Folgen. Für seine Kritiker war Facebook der ‚große Gatsby’ des 21. Jahrhunderts, wenn auch im Unternehmensbereich: fahrlässig in seinen Privilegien und vollständig auf seine eigenen Bedürfnisse und Vorteile bedacht."

Techunternehmen als Anlagemöglichkeit

Tatsächlich war das Bestreben, mit der Idee der Vernetzung Geld zu verdienen, von Anfang an Facebooks Geschäftsstrategie, schreibt Steven Levy. Im Herbst 2006 öffnete sich das bis dahin studentische Netzwerk erst der amerikanischen, dann nach und nach der Weltöffentlichkeit. Der Börsenwert von Facebook lag im Februar 2020 bei über 750 Milliarden Dollar. Die Zahl spricht für sich.
Aber Facebook ist nur die Spitze des Eisbergs. Google, 1998 gegründet, begann Ende der 2000er-Jahre, seine Suchmaschine für Werbekunden zu optimieren. Man wollte mit Werbung Geld verdienen und damit als Unternehmen überleben.
Denn auch wenn sich die Gründer als Idealisten und Weltverbesserer schlechthin gerierten – "Don’t be evil" war lange Firmen-Motto: "Sei nicht böse!" –, groß gemacht hat das Unternehmen, wie die anderen auch, das renditesuchende Kapital. Das, wie Adrian Daub meint, nach der Finanzkrise 2008 keine anderen Anlagemöglichkeiten gefunden habe, "weil 2008 Unmengen Geld zuerst in den Finanzmärkten verpufft sind und dann von den Zentralbanken wieder ausgegeben worden sind. Und diese Geldschwemme, die eben nicht Durchschnittsamerikanern zugutekam, sondern eigentlich nur den großen Kreditinstituten und allen möglichen anderen Investoren-Gruppen, musste irgendwo hin."
Es bot sich an, es als Risikokapital im Silicon Valley anzulegen, sagt Adrian Daub.

"Meine Vermutung wäre, dass wir rückblickend aus dem Jahr 2030 mal sagen werden, dass das ein Artefakt der absoluten Legitimitätskrise 2008 war. Wo plötzlich sämtliche Wirtschaftszweige einfach erst einmal abgeschmiert sind, aber eben nicht diese Industrie. Kombiniert damit, dass es durch verschiedene soziologische Faktoren eine besonders junge Industrie war. Die Galionsfiguren waren diese 23-, 24-Jährigen, denen man auch abnahm, dass sie noch Idealisten waren. Also ich denke, es kann sein, dass es wirklich einfach eine Konfiguration von geschichtlich einzigartigen Faktoren war, eine bestimmte Ästhetik, ein bestimmter Jugendwahn und das Bedürfnis des Kapitalismus, an irgendetwas glauben zu müssen. Und an was sollte man sonst glauben? Die Finanzmärkte hatten sich komplett als Kaiser ohne Kleider herausgestellt. Da musste irgendjemand her, der, sage ich mal, das Traumpotenzial des Kapitalismus noch erfüllen konnte. Und da bot sich natürlich ein Campus an der schönen Bay von San Francisco mit lauter Kapuzenpulli tragenden 23-Jährigen auf Rollern irgendwie an. Aber das hatte immer ein Haltbarkeitsdatum."

Der Traum von einem besseren Kapitalismus

Ist das jetzt erreicht? Und warum überhaupt ist die Welt den Versprechen des Silicon Valley so gern gefolgt?
"Es waren diese Legenden. Dieser Anspruch, Kapitalismus ganz, ganz anders machen zu können. Man könnte das imaginative capture nennen. Die haben unsere Einbildungskraft sozusagen übernommen. Die haben unsere Vision von der Zukunft übernommen. Die haben die besetzt."
Die Vision eines besseren, moderneren Kapitalismus wurde auch in Europa aufgesaugt wie eine magische Formel. Sie gehörte bald zum gängigen Repertoire der Reden in den Führungszirkeln von Politik und Wirtschaft. Politikwissenschaftlerin Jeanette Hofmann:
"Eine Mystifizierung über die Freiheit, die sich da an der Westküste eine Weile abgezeichnet hat. Und sicher auch diese Lust am Disruptiven. Heute hat das einen überwiegend negativen Klang. Aber zunächst einmal lag darin ja auch so etwas Schumpeterisches, dass man alte Fesseln zerschlagen muss, um dem Neuen Raum zu geben."
Was aus dem Silicon Valley kam, sollte idealerweise nicht nur eine verbesserte, weiterentwickelte Form des Alten sein. Es sollte disruptiv sein. Das heißt, eine so radikal neue Version einer bestehenden Industrie oder Dienstleistung, dass sie die alten Formen obsolet macht. Filesharing statt Platten und CDs, Streaming statt Fernsehen, automatisierte Plattformen statt menschenvermittelte Services.

Der Mythos von den demokratischen digitalen Medien

Einer der ersten und prominentesten Autoren, die die Ideologien des Silicon Valley anprangerten, ist der Weißrusse Evgeny Morozov. Schon 2013 warnte er in seinem Buch "Smarte neue Welt" vor dem, wie er ihn nennt, Tech-Solutionismus. Der Idee, dass sich alle gesellschaftlichen Herausforderungen durch Technik lösen ließen. Und dass Technik per se die Gesellschaft zu einer gerechteren macht. So, wie es viele glaubten.
Das Vertrauen in die Digitalisierung und die damit verbundenen Hoffnungen erklärt sich der Publizist mit den politischen Umbrüchen in Europa Ende der 1980er-Jahre. Zwei in dieser Zeit – jenseits des Silicon Valley – entstandene Mythen seien ein Erbe des Kalten Krieges.
"In den 90er-Jahren war die Annahme verbreitet, dass mit der Technologie und der sich ausbreitenden Globalisierung der Lebensstandard steigen wird. Dass die Menschen interessantere Jobs bekommen, dass wir alle Unternehmer werden. Das war der Horizont, der darüber bestimmte, wie wir über die Digitalisierung dachten. Und – klar – als so etwas wie Uber in den frühen 2000er-Jahren auftauchte, war das die Schablone, durch die wir die Versprechen interpretiert haben. Sie war eingeschrieben in die Logik der digitalen Technologie, die davon ausging, dass die Digitalisierung alle Berufe und Jobs spannender und flexibler macht."
Dahinter aber, so Morozov, stehe der ganz grundsätzliche Irrtum, "dass Kapitalismus und digitale Medien irgendwie von Natur aus demokratisch sind. Besonders viele Menschen in Amerika haben diesen Mythos aus einer Fehlinterpretation des Endes des Kalten Krieges abgeleitet. Sie glaubten wirklich, dass der Zusammenbruch des Ostblocks mit dem Charme des Kapitalismus zu tun hatte oder mit der Schwäche der sowjetischen Wirtschaft. Und natürlich mit der Macht von Informationen. Es gab immer diese Annahme, dass mehr Kommunikation irgendwie mehr Demokratie bedeutet, dass es bessere Politik bedeutet."

Arabischer Frühling und die "Twitter-Revolution"

Auch Morozov hat Zeit in Stanford verbracht – von 2010 bis 2012, noch relativ am Anfang des Hypes um soziale Netzwerke. Der Arabische Frühling, der im Dezember 2010 in Tunesien begann, führte damals zu vielen Debatten über das revolutionäre Potenzial der Neuen Medien. Schlagworte der Stunde waren "Twitter-Revolution" und "Revolution 2.0". Viele Demonstrationen wurden über Facebook und Twitter organisiert. Erstmals war es möglich, eine breite Öffentlichkeit am Staat vorbei zu erreichen. Durchaus denkbar, dass ohne die digitalen Tools aus dem Silicon Valley die Proteste nicht die gleiche Wucht erreicht hätten.
Evgeny Morozov steht mit dem Ellenbogen an eine Säule gelehnt und schaut in die Kamera.
Hat die Heilsversprechen der Techkonzerne schon lange kritisch hinterfragt: der Publizist Evgeny Morozov.© picture alliance / Anke Waelischmiller / Sven Simon
Morozov, geboren in der ehemaligen Sowjetunion und aufgewachsen im totalitär regierten Weißrussland, war vor Stanford durch Länder wie Kirgistan, Moldawien, Syrien, Jordanien und Ägypten unter Husni Mubarak gereist. Seine Beobachtungen hatten ihn skeptisch gemacht gegenüber der nachhaltigen emanzipatorischen Wirkung digitaler Medien. Als er ins Silicon Valley kam, sei ihm klar geworden, dass viele dort Technik nicht im politischen Kontext sahen und nur sehr wenig Verständnis für die Länder des Nahen Ostens hatten, deren Politik sie auch nicht wirklich verstanden.
"Es war die primitivste Form von Technodeterminismus. Dabei nahmen sie an, dass eine bestimmte Technologie überall die gleichen politischen Auswirkungen hat. Als ich im Silicon Valley war, verstand ich, dass diese Logik nicht nur darin enthalten war, wie sie über Demokratisierung im Nahen Osten nachdachten. Sie hat auch die Art und Weise geprägt, wie sie über ihren eigenen Hinterhof dachten – also über Bildung, über das Gesundheitssystem, das Verkehrssystem. Alles war anfällig für die gleiche Art von Optimierung, Disruption und all diese Prozesse, von denen das Silicon Valley behauptete, sie zu meistern."

Aufstieg und Niedergang der Piratenpartei

Auch ich war in den Zehnerjahren durchaus begeistert vom politischen Potenzial der Technologie. In Europa schlug sich das unter anderem in einer neuen politischen Bewegung nieder: Gestartet in Schweden, hatte die Piratenpartei Hoffnung auf neue Formen der Politik-Beteiligung gemacht. Im Herbst 2011 zog sie erstmals in Berlin in ein Landesparlament ein, ein Jahr später hatten die Piraten deutschlandweit Zustimmungswerte von bis zu zwölf Prozent!
Auch hier waren die Protagonisten jung und agil. Auch sie experimentierten mit digitalen Kommunikationsformen, Hierarchiefreiheit und dem Prinzip der Selbstorganisation. "Liquid Democracy"-Tools sollten alle Menschen gleichberechtigt in Entscheidungsfindungen einbeziehen. Heute sind die Piraten weitgehend aus der politischen Landschaft verschwunden. Technologie, so zeigte sich, kann fehlende Demokratiekonzepte nicht ersetzen.

Dass diese Hoffnung überhaupt aufkommen konnte, ist für Jeanette Hofmann, Forschungsdirektorin im Bereich Internet Policy und Governance am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft, Folge eines weiteren, tiefgreifenden Missverständnisses.
Ein Wahlplakat der Piratenpartei Deutschland Dr. Patrick Breyer Digitale Kompetenz ins Europaparlament
Früher gehypt, nun vergessen: Bei der Europawahl 2019 holten die Piraten weniger als einen Prozent der Stimmen. © picture alliance / dpa / Revierfoto

Glaube an die Technologie, nicht an den Menschen

"Da kriegt man immer den Eindruck, als gäbe es so eine Fortschrittslogik, die in die Technik selbst eingebaut ist. Und das ist natürlich überhaupt nicht der Fall. Im Gegenteil, wenn man den Ingenieuren – und das sind ja überwiegend Männer – zuhört, die Technik entwickeln, dann sieht man, dass die selber starke Kontroversen haben über die Richtung, die genau eingeschlagen werden sollte, und über die Faktoren, die eine große Rolle in der Entwicklung spielen sollten – und andere, die vernachlässigt werden sollten."
Dennoch hat sich das Silicon Valley gern auf dieses Denken aufgesetzt: auf den Glauben, dass es Technik ist, die Fortschritt bringt. Dass Technik vor bestimmten historischen Hintergründen entwickelt wird, aus ganz spezifischen Antrieben heraus – das geht unter.
"Ich glaube, dass das nicht eine Silicon-Valley-spezifische Sache ist, sondern das sieht man selbst bei Diskussionen um frühere Technologien wie Elektrizität, Eisenbahn. Das prägt Europa wie Amerika. Diese schräge Vorstellung, dass wir unsern Fortschritt den Technologien verdanken und nicht den Menschen, die sie entwickeln und nutzen."

Globalisierung mit Vorbild USA

Jede Kultur projiziere dabei immer auch ihre eigenen Mythen in die Zukunft, sagt Jeanette Hofmann – sowohl mit Blick auf die Methoden, mit denen die Zukunft erreicht werden soll, als auch hinsichtlich der Regeln, die die Zukunft prägen sollen.
"Und bei Amerika ist es ja auch dieses westwärts ziehen und den Kontinent sich unterwerfen. Und das hat natürlich auch was damit zu tun, in welchem Zeitalter die digitalen Technologien entwickelt worden sind. Das ist einfach ein Zeitalter der Globalisierung und auch einem amerikanischen Bild von sich selbst, dass sie die Welt beglücken."
Ich will genauer wissen, mit welchen Strategien das Silicon Valley besonders erfolgreich darin war, die Gesellschaft für sich zu gewinnen. Wie ist es gelungen, dass seine Produkte und Dienstleistungen in weiten Teilen der Welt als unverzichtbar gelten, wenn inzwischen vielleicht auch nicht mehr unbedingt als reiner Fortschritt? Wie konnte das Profitstreben demgegenüber so in den Hintergrund geraten?
"Es war immer eigentlich eine Marketingstrategie", sagt der Literaturwissenschaftler Adrian Daub. In seinem Buch "Was das Valley denken nennt" kritisiert er, dass die Tech-Branche immer wieder vorgibt, Dinge zu tun, dass sie in Wirklichkeit aber ganz anders handelt.

Schöne neue Arbeitswelt

Eines der wichtigsten Versprechen etwa – egal ob von Facebook, Google oder Twitter, ob von Uber oder Airbnb – laute: Die Produkte sind für alle da. Aber: "Mit 'jeder', mit 'für alle', mit 'universell' war nie wirklich jeder gemeint. Es war immer der gemeint, der dieses Produkt technologisch nutzen konnte – und mit dem sich möglicherweise Geld verdienen ließ."
Dafür wurde die Arbeitswelt – scheinbar – neu erfunden. Flexibler gemacht, freier. Der Begriff Gig-Economy etwa steht für diese Welt, in der Freelancer arbeiten können, wann sie Lust haben, ohne Einschränkungen durch starre Arbeitszeiten und am Ort ihrer Wahl.
Und tatsächlich sieht die Arbeit oftmals anders aus in der Digitalisierung. Alles kommt unkonventioneller, moderner, hierarchiefreier daher. Das kam auch der Politik entgegen, meint Adrian Daub.

"Dadurch wurden diese Mythen sozusagen zu den Mythen einer gewissen Art, sich Regierung vorzustellen. Und ich glaube nicht, dass die Unternehmen dabei die Hauptschuld tragen. Ich glaube auch, dass es einen gewissen Politikerschlag gab, der so etwas brauchte. Weil es eben eine Art war, den Kapitalismus noch einmal irgendwie Persil zu reinigen. Wenn es die Tech-Industrie nicht gegeben hätte, hätte man sie erfinden müssen. Das war genau so eine Art, um über die Verwerfungen der Industrialisierung hinwegzutäuschen. Eben auf das Technologische zu deuten."
In Wirklichkeit verbirgt sich hinter "Digitalisierung" ein neoliberales Gesellschaftsmodell, in dem sich Uber-Fahrerinnen und -Fahrer von Auftrag zu Auftrag hangeln und Clickworker auf weltweit mehr als 2000 Internet-Plattformen für Minihonorare ihre Dienste auf Abruf anbieten. Ohne Absicherungen. Aber ummantelt von hipper Technologie.

Ganz anders, ganz neu – von wegen!

Auch Teil der Marketingstrategie des Silicon Valley: das Prahlen mit der Disruption. So zu tun, als würde man etwas völlig Neues erfinden, wofür Bestehendes zerstört werden muss.
"Das ist eben dieser Anspruch, mit dem Dagewesenen zu brechen. Ganz anders, ganz neu, ganz kühn zu denken. Aber wenn man es mal genau sich anschaut, ist es eigentlich nur, dass es tatsächlich weniger Geld abwirft für die Investoren bisher, als es ein ganz herkömmliches Unternehmen täte."
Bestes Beispiel für diese Schein-Innovation ist der Fahrdienstleister Uber.
"Ein Unternehmen, von dem wir uns immer gesagt wurde, ja, das macht euer Taxiunternehmen jetzt kaputt, weil die viel effizienter sind und weil die ein schöneres Produkt billiger an den Konsumenten bringen können. Ja gut: Uber hat in seiner Firmengeschichte, glaub ich, noch nie schwarze Zahlen geschrieben. Das ist eine Wette von Investoren, die diesen Unternehmen Jahr um Jahr Milliarden in den Rachen schmeißen, dass man die Taxiunternehmen kaputtmachen kann und dann – sozusagen als Monopolist – die Preise hochfahren kann. Es ist eine Rechnung, die nichts mit Effizienz zu tun hat. Wenn Ihr örtliches Taxiunternehmen so viel Verlust einfahren würde wie Uber, dann würden wir alle sagen, das ist das Ineffizienteste, was wir je gesehen haben."
Uber ist nicht das einzige Beispiel dafür, wie alter Wein in neuen Schläuchen verkauft, sprich: digital organisiert und vernetzt wird. Auch Airbnb etwa bietet als Produkt letztlich nicht mehr als Zimmervermietung – nur ohne die bisher üblichen Standards in Sachen Arbeitsschutz und sozialer Absicherung. Was bleibt ist das reine Business, mit dem einige wenige sehr viel Geld verdienen.
Natürlich hat das Silicon Valley echte Innovationen hervorgebracht oder zumindest Kulturpraktiken revolutioniert. Google das Prinzip der Suche. Facebook das Prinzip der Vernetzung. Deshalb habe ich mich oft gefragt: Warum gibt es so etwas nicht aus Europa? Wieso hat man den Eindruck, digitale Technologie geht nur so, wie sie aus dem Silicon Valley kommt – und sonst gar nicht?
Auch das ist vor allem gutes Marketing, sagt Adrian Daub. Es sei gelungen, ein "Gefühl des Determinismus" zu erzeugen. "Die hatten halt eine Plausibilität, und das Produkt war auch schön. Und es kommt sozusagen so oder so. Man kommt gar nicht darum herum. Und dann war das Zweite natürlich noch der Kult um diese Unicorns. Bei den Presse-Anfragen, die ich aus Europa bekam, wenn ich über Silicon Valley schreiben oder sprechen sollte, war immer der Tenor: Warum können wir das nicht? Warum können wir keine Milliarden-Konzerne aus dem Boden stampfen, in denen Leute in Kapuzenpullis mit Rollern rumfahren? Der Hauptgrund ist doch der, dass in Europa sehr viel stärkere Datenschutz- und Kapitalkontrollen vorliegen. Klar, wenn man den regulativen Staat komplett kaputt macht, dann kommt ein Facebook oder so etwas dabei heraus. Und ich glaube, dass da häufig sozusagen die Attraktivität dieser Unternehmen darüber hinweggetäuscht hat, dass es nicht nur um reinen Pioniergeist und reine Kreativität ging, sondern: das waren Unternehmen, die so Erfolg haben konnten, weil dieses Land sich aus der Verantwortung gezogen hat für viele seiner Mitbürger."

Europas Antwort auf Silicon Valley

Dezember 2020: Für die Europäische Union ein besonderer Tag. An diesem Dienstag veröffentlicht die Europäische Kommission zwei Gesetzentwürfe: den Digital Services Act und den Digital Markets Act. Damit soll die digitale Welt neu geordnet werden. Es ist Europas Antwort auf die Macht des Silicon Valley.
Die Resonanz ist durchaus positiv. Netzaktivistinnen und Netzaktivisten, die in der Regel die Internetpolitik Brüssels kritisch bewerten, sprechen von "revolutionären Vorschlägen". Auch seitens der Wissenschaft gibt es Zuspruch.
Brüssel plant zum einen, die Verbreitung illegaler Inhalte auf den Internetplattformen strenger zu bekämpfen. Empfehlungsalgorithmen sollen transparenter werden – und Nutzerinnen und Nutzer besser kontrollieren können, was sie zu sehen bekommen. Zum anderen will Brüssel die Marktmacht der Konzerne beschränken und mehr Wettbewerb fördern.

Klingt gut, denke ich. Doch wie weit kommt man damit? Reicht es aus, um den Geschäftspraktiken, um den Ideologien des Silicon Valley etwas entgegenzusetzen? Jeanette Hofmann findet die regulatorischen Vorhaben auf der europäischen Ebene zu schwach.
"Ich glaube, es braucht ein neues Geschäftsmodell. Und langfristig wünschen wir uns natürlich auch Regularien, die mehr Wettbewerb in diesem Bereich sicherstellen. Das heißt, man muss an diese sogenannten Netzwerkeffekte ran, die dazu führen, dass eine Plattform umso wertvoller wird, je mehr Nutzerinnen sie hat und die es eben dadurch fast unmöglich machen, dass sich neue Plattformen etablieren können."

Gewerkschaften im Silicon Valley

Und das Valley selbst? Ist von dort Veränderung zu erwarten? Tatsächlich ist einiges in Bewegung geraten. Zunehmend mischen sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in die Unternehmenspolitik ein. Bei Twitter forderte die Belegschaft einen anderen Umgang mit Donald Trump, dessen Account inzwischen gesperrt ist.
Auf einem Handydisplay ist der gesperrte Twitter-Account von US-Präsident Donald Trump zu sehen. (gestellte Szene)
Die Sperrung des Twitter-Accounts von Donald Trump löste weltweit Debatten über Meinungsfreiheit und die Regulierung sozialer Netzwerke aus.© picture alliance / dpa / Stephan Schulz
Schon 2018 beschloss Google, einen Vertrag mit dem Pentagon über das KI-Project Maven nicht zu verlängern. Tausende Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hatten in einer Petition gegen die Zusammenarbeit protestiert. Druck von unten kam auch, als Google an einer zensierten Suchmaschine für China gearbeitet hat. Und erst im Dezember 2020 entließ Google seine Mitarbeiterin Timnit Gebru – nachdem die Tech-Ethikerin kritisiert hatte, dass Google künstliche Intelligenzen entwickle, die Minderheiten rassistisch diskriminieren.
Möglicherweise bleibt es nicht bei Einzelaktionen. Im Januar dieses Jahres haben sich die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Alphabet-Konzerns, dem auch Google angehört, in einer Gewerkschaft zusammengeschlossen. Die Alphabet Workers Union will für faire Bezahlung und faire Arbeitsbedingungen kämpfen und fordert eine strukturelle Veränderung des Konzerns.
"Sie haben sich auf ein Modell aus dem 19. Jahrhundert besonnen. Sie haben eben nicht gesagt: Die Kontrolle muss ganz anders aussehen. Das muss alles über Disruption gehen. Die haben gesagt: Nein, es stellt sich heraus, es gibt ein Modell, wie Arbeiter miteinander Sicherheit und Rückhalt garantieren können. Und es heißt: Gewerkschaften. Das heißt nicht, dass wir sozusagen zurück ins 19. Jahrhundert sollen. Es heißt aber schon, dass wir auch nicht so tun sollen, als würden die neuen Technologien alles, was an gewachsenen Strukturen da ist, als würden die das einfach negieren. Das tun sie nicht."
Und es zeigt auch: Letztlich entscheiden Menschen darüber, wie sie Technologien nutzen wollen. Und sie bestimmen auch darüber, wie die Zukunft aussieht im Silicon Valley.
"Da, wo man das am stärksten sehen wird in den nächsten Jahren, ist auf der Ebene der Mitarbeiterinnen. Da wird das immer deutlicher. Und dass manche Leute sich inzwischen schämen dafür, wo sie arbeiten."
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