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Alain Badiou "Logik der Revolte"
Suche nach der Gegenwart

Der Philosoph Alain Badiou, der letzte namhafte Marxist der intellektuellen Szene Frankreichs, hält nicht viel von den jüngsten Protestbewegungen, wie den Gelbwesten. Seine Kritik gilt dem Individualismus. In seiner "Logik der Revolte" geht es ihm um den Kampf gegen den "zeitgenössischen Nihilismus".

Von Cornelius Wüllenkemper | 06.12.2019
Der französische Denker und Philosoph Alain Badiou
Der französische Denker und Philosoph Alain Badiou (imago images / Piero Chiussi)
Die jüngsten Protestbewegungen, wie etwa die Gelbwesten in Frankreich, fanden bei Alain Badiou nur wenig Anklang. Deren Anführer forderten ausschließlich finanzielle Zugeständnisse der Regierung und unterstützen auf diese Weise selbst das kapitalistische System, so der Philosoph in einem seiner zahlreichen Interviews. In der Vorlesungsreihe "Logik der Revolte" lieferte Badiou bereits vor einigen Jahren die Gründe für diese Einschätzung: Es könne keine echte Rebellion geben, solange es keine "authentische Gegenwart" gibt. Unsere Gegenwart schwebe in einer Sinnleere zwischen der Vergangenheit des Realsozialismus und dem Fehlen eines neuen kollektiven Gesellschaftsprojekts.
"Die Zukunft, die Vorschläge, die sich auf die Zukunft bezogen, wurden als Utopien verstanden und als utopische Albernheiten betrachtet. Das ist die 'moderne' Zukunftskritik. Aber es gibt auch eine 'moderne' Vergangenheitskritik: Man muss modern sein, darf nicht veraltet sein. Die kommerzielle Gegenwart, so wollen wir sie nennen, ist eine Gegenwart, die weder Zukunft noch Vergangenheit haben will. Sie ist die Gegenwart ihrer eigenen Existenz, nichts weiter."
Das ist erklärungsbedürftig. Nach den politischen Extremerfahrungen des 20. Jahrhunderts hat sich der demokratische Kapitalismus nunmehr selbst als alternativlos erklärt. Auch politische Meinungen, künstlerische Kreativität, sogar Identitäten und Glücksverheißungen unterliegen mittlerweile dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Badiou nennt das "zeitgenössischer Nihilismus."
Im Zeitalter der Handbücher
Seine "Logik der Revolte" basiert auf der Überzeugung, dass der Einzelne erst dann die Geborgenheit in einem Kollektiv findet, wenn er die Obsession der Selbstverwirklichung hinter sich lässt.
"Unsere Zeit ist die Zeit der Handbücher. Es gibt Handbücher für alles. [...] Aber Sie können kein Handbuch für etwas schreiben, das nur als Singularität existiert. Dennoch bemüht sich unsere Zeit, sogar für die Singularität Handbücher vorzulegen, um zu lernen, wie man singulär sein kann. 'Sei du selbst!', das ist ein Bestsellertitel! Wenn Sie die Ratschläge eines solchen Buches Wort für Wort befolgen, dann werden Sie sein wie alle anderen, das ist formal unvermeidlich!"
Alain Badiou trägt seine beißende Gegenwartskritik so unverblümt vor, dass man zum Teil den Eindruck gewinnt, er kokettiere ganz bewusst mit seiner intellektuellen Außenseiterposition als Marxist. So formuliert er eine Reihe von "Gleichgültigkeiten", die eine kommende Revolte möglich machen sollen. Das demokratische Mehrheitsprinzip verwirft Badiou dabei ebenso wie die Rücksichtnahme auf Partikularinteressen. Dazu kommt:
" .....die Gleichgültigkeit gegenüber der vermeintlichen Antinomie zwischen autoritär und tolerant; es wird nicht darum gehen, autoritär als Gegensatz zu tolerant zu setzen, auch nicht das Autoritäre dem Toleranten vorzuziehen, sondern um eine Gleichgültigkeit, ein Außerkraftsetzen dieser Antinomie."
Neue Ordnung jenseits der Demokratie
Im Band "Versuch, die Jugend zu verderben" hatte Badiou bereits die Menschenrechte als "reaktionären Mythos" bezeichnet. In seiner "Logik der Revolte" dekonstruiert er nun genüsslich zeitgenössische Vorstellungen von Demokratie, Vielfalt und Meinungsfreiheit.
"Was die Politik betrifft, so geht es darum, mit den etablierten, aufgezwungenen Schemata zu brechen. Wahrscheinlich auch darum, mit der repräsentativen oder expressiven Vorstellung von Politik zu brechen, mit jener abgeschmackten Idee, dass die Freiheit darin bestünde, dass jeder die Möglichkeit habe, sich ‚auszudrücken’."
Bei Alain Badiou scheinen die Schnittmengen der fundamentalen Systemkritiken der extremen Linken und Rechten auf – allerdings mit einem entscheidenden Unterschied. Badious Vorstellung einer neuen Ordnung zielt nicht auf die Verfolgung von Menschen, Ethnien oder Kulturen, sondern wendet sich allein gegen Systeme und Machtstrukturen. Der globalen Profit-Logik stellt der Philosoph vier Auswege entgegen: Die reine Wissenschaft, die ästhetische Empfindung, die autonome politische Tat und die selbstlose Liebe. Eben weil diese Bereiche sich dem Gesetz von Angebot und Nachfrage entziehen, weisen sie den Weg zu einem neuen Gesellschaftsentwurf, oder zu einer "Deklaration", wie der Philosoph Badiou es formuliert.
Die geistige Unbehaustheit der Gegenwart
"Die Liebe als Austausch darzustellen entspricht wahrscheinlich der kommerziellen Liebesvorstellung. Ich feilsche, Du feilscht, ich liebe dich ein bisschen, was ist Dir das wert?" [...] Egal, ob es sich um eine künstlerische Deklaration, eine Liebeserklärung oder um irgendeine andere Deklaration handelt, eine wahre Deklaration ist den Gesetzen des Austauschs entzogen, und folglich trägt sie selbst das Risiko ihres Angebots, ihres Antrags, sie erwartet keine gleichwertige Rückerstattung. In diesem Sinne kann man sagen, dass sie nicht zirkuliert und sich nicht zu Geld machen lässt."
Badiou führt den Begriff der "falschen Gegenwart" in verschiedenen Disziplinen vor. An Arthur Rimbaud und Berthold Brecht etwa zeigt er, wie ihre Gedichte von der geistigen Unbehaustheit der Gegenwart in eine bessere Zukunft verweisen und den Glauben an das Unmögliche formulieren. Im Gespräch mit dem Schriftsteller und Dramatiker François Regnault debattiert Badiou die gegenwärtige Bedeutung der großen Dramen der Theatergeschichte. Dann wieder springt er als politischer Kommentator in die Zeitgeschichte. Am Lieblingsfeind der französischen Linken, den USA, untersucht der Philosoph die Unverhältnismäßigkeit zwischen der militärischen Zerstörung eines Landes und dem Mangel an Werten, auf denen man eine neue Gesellschaft aufbauen könnte.
"Wenn die Amerikaner verkünden, sie seien das Gute – das verschiedene Namen hat: Demokratie, Freiheit, Macht -, [...] dann glaube ich, dass dieses Gute die Leere bezeichnet. [...] Die bösen Mächte sind diejenigen, die nicht anerkennen, dass Amerika das Gute ist. Das ist ihre einzige Definition. Ich kann keine andere erkennen."
Verbunden werden Badious mal polarisierende, mal theoretisch ausdifferenzierte Vorlesungen durch die Überzeugung, dass eine andere Ordnung der Dinge möglich ist. Wie er die Revolte konkret herbeiführen will, lässt der Philosoph Badiou allerdings im Ungefähren. Er beschwört eine "Metaphysik der Bewegung", bei der eine plötzlich aufscheinende Erkenntnis, der Glaube an das Unmögliche ein revolutionäres Kollektiv entstehen lässt. Das ist die theoretische Rhetorik eines engagierten Philosophen.
Badiou führt sein Denken in akademischer Sprache und Begrifflichkeit aus – was man natürlich auch der deutschen Übersetzung anmerkt. Badious Vorlesungen sind keine praktischen Handlungsanweisungen, sondern politische, philosophische und ästhetische Reflexionen über die Gegenwart. Man muss Badious Argumenten keineswegs zustimmen, um sie als anregende Analysen jenseits geläufiger Meinungsschemata zu lesen.
Alain Badiou "Logik der Revolte"
Aus dem Französischen von Martin Born
Passagen Verlag, Wien
220 Seiten, 29 Euro