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"Dich hatte ich mir anders vorgestellt ..."
Wenn aus Angst Liebe wird

Die Tests bestätigten die schlimmsten Ängste des jungen Vaters: Seine gerade geborene Tochter hat Down-Syndrom. Autor und Zeichner Fabien Toulmé erzählt in seiner bewegenden Graphic Novel "Dich hatte ich mir anders vorgestellt ...", wie er sich nach anfänglicher Gefühlskälte schrittweise seinem Kind annähert.

Von Kai Löffler | 20.10.2015
    Eine Seite aus der Graphic Novel "Dich hatte ich mir anders vorgestellt ..." von Fabien Toulmé
    Eine Seite aus der Graphic Novel "Dich hatte ich mir anders vorgestellt ..." von Fabien Toulmé (Avant-Verlag / Fabien Toulmé)
    "Es gibt eine Unzahl von möglichen Krankheiten und Behinderungen, mit denen ein Kind auf die Welt kommen kann. Es kann mit einem Arm geboren werden, an Leukämie erkranken, und was weiß ich noch. Aber die größte Angst machte mir das Down-Syndrom."
    Für Autor und Illustrator Fabien Toulmé war diese Angst seit seiner Jugend tief verwurzelt. Gleich in der ersten Szene seines Comics "Dich hatte ich mir anders vorgestellt ..." erzählt er eine Schlüsselerinnerung:
    "Als Kind bin ich in den Ferien an einer Schule für Kinder mit Down-Syndrom vorbeigekommen. Diese Erinnerung hat sich bei mir eingebrannt. Deshalb hatte ich bei der Geburt meiner ersten Tochter und dann natürlich auch bei der Zweiten so große Angst davor."
    Alles in Ordnung, versichern die Ärzte
    Auch wenn die Ärzte den frisch gebackenen Eltern anfangs versichern, dass alles in Ordnung ist, hat Fabien Toulmé sofort das Gefühl, dass seine Tochter anders ist als die anderen Neugeborenen. Die Tests nach der Geburt bestätigen die schlimmsten Ängste des jungen Vaters: Seine Tochter Julia hat Down-Syndrom, und für Toulmé bricht eine Welt zusammen. Diese aufreibende Zeit hat er in seiner ersten Graphic Novel schonungslos für die Nachwelt festgehalten. Er verwandelt sich und seine Familie darin zwar äußerlich in knubbelig-freundliche frankobelgische Comicfiguren, geht aber gerade mit sich selbst hart ins Gericht.
    "Ich musste einfach alles erzählen, sonst wäre es eine oberflächliche Geschichte gewesen. Ich musste die Wahrheit sagen, einfach schon weil es die Wahrheit ist. Ich gebe aber zu, dass ich beim Schreiben gar nicht daran gedacht habe, dass es auch mal jemand lesen wird. Vielleicht hätte ich es sonst anders geschrieben."
    "Ich konnte nicht, ich wollte sie nicht anfassen. Vielleicht aus Ekel, vielleicht aus Wut. Wut auf mich selbst, der nichts für dieses Kind empfand, auf Patricia - vielleicht war das alles ihre Schuld - auf Julia, die nicht so war, wie ich sie mir gewünscht hatte."
    "Ich glaube, es ist normal, dass man in so einer Situation diese Phasen durchläuft. Als der Band in Frankreich erschienen ist, haben mir viele Eltern von Down-Syndrom-Kindern geschrieben, dass sie ganz ähnliche Erfahrung gemacht hatten: Sie haben wie ich zuerst Ablehnung, dann Akzeptanz und dann Liebe empfunden. Rückblickend bin ich deshalb auch nicht von mir selbst enttäuscht; ich glaube, das war ein normaler Prozess, und heute bin ich ein stolzer Vater, der seine beiden Kinder gleichermaßen liebt."
    Toulmé springt in seiner Erzählung immer wieder in der Zeit nach vorne, mal ein paar Tage, mal ein ganzes Jahr. Am Ende der Graphic Novel ist Julia drei Jahre alt. Die Transformation vom wütenden, ablehnenden Mann zum liebenden Vater ist schwer in Worte zu fassen, aber Toulmé sucht geschickt gerade die Schlüsselmomente für seine Erzählung aus, die seinen Wandel trotzdem verständlich machen. Dabei geht es ihm nicht darum, seine Leser zu bekehren.
    Cover: "Dich hatte ich mir anders vorgestellt ..."
    Cover: "Dich hatte ich mir anders vorgestellt ..." (Avant-Verlag / Fabien Toulmé)
    "Ich wollte einfach eine Geschichte erzählen. Meine Geschichte. Ich wusste nicht, ob ich damit auf Zustimmung oder Ablehnung stoßen würde. Und wenn jemand deshalb seine Meinung über das Down-Syndrom geändert hat, dann freut mich das natürlich. Es war aber nicht der Grund, warum ich den Comic geschrieben habe."
    Fesselnde Entwicklung
    Wenn sich Toulmé nach drei Monaten noch immer weigert, seine Tochter auf den Arm zu nehmen, ist das schockierend. Aber während er sich nach der anfänglichen Gefühlskälte schrittweise an die kleine Julia annähert, zieht er uns zunehmend in seinen Bann, bis zum unerwartet bewegenden Abschluss.
    Hier liegt die überraschende Stärke von "Dich hatte ich mir anders vorgestellt": Die Kluft zwischen dem Leser und Toulmé scheint anfangs mindestens so schwer überbrückbar wie die zwischen ihm und seiner Tochter. Dabei versteht er sich vor allem als Chronist: Ohne zu manipulieren oder moralisieren, schafft er es, seine Erinnerungen, Beobachtungen und Gedanken erfahrbar zu machen.
    Für Fabien Toulmé war seine erste Graphic Novel allerdings mehr als die Chronik eines turbulenten Lebensabschnitts - sie war außerdem die Erfüllung eines lang gehegten Traums:
    "Schon als Kind habe ich immer gezeichnet. Und dann habe ich im Studium damit aufgehört, und bin zehn Jahre als Ingenieur ins Ausland gegangen. In Brasilien bin ich Comiczeichnern begegnet, und die haben mich auf die Idee gebracht, nach Frankreich zurückzukehren und mich dort an Comics zu versuchen. Ich habe dann für Zeitungen gezeichnet, bevor Julia auf der Welt war. Später suchte ich nach einem Projekt, und habe entschieden, unsere Erlebnisse nach Julias Geburt zu erzählen. Ich dachte, es wäre eine wunderschöne Geschichte, mit der sich sicher viele Menschen identifizieren können."
    Fabien Toulmé: "Dich hatte ich mir anders vorgestellt ..."
    Avant Verlag, Berlin 2015, 248 Seiten. ISBN: 978-3-945034-34-7