Tatiana Țȋbuleac: "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte"

Zu viel Tragik, Euphorie und Unglück

06:11 Minuten
Das Buchcover von Tatiana Țȋbuleac: "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte".
Tatiana Țȋbuleac betreibt die Umwertung aller Werte lakonisch, unsentimental und sehr gegenwärtig. © Deutschlandradio / Schöffling & Co
Von Jörg Plath · 08.04.2021
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Sie stößt ihn weg, er wünscht ihr den Tod. Tatiana Țȋbuleac erzählt so mitreißend wie unsentimental von einer schwierigen Mutter-Sohn-Beziehung. Dennoch hätten weniger Schicksalsschläge dem Debütroman gut getan.
Ein lieblos und ärmlich in London aufgewachsener Jugendlicher, der wegen seiner unbeherrschbaren Aggressivität schon öfter in der Psychiatrie landete, hasst seine alleinerziehende, aus Polen stammende Mutter so sehr, dass er ihr den Tod nicht nur wünscht, sondern ihn sich täglich lustvoll ausmalt. Aleksy will im Sommer mit Freunden nach Amsterdam ausreißen, um Drogen und Sex zu genießen.

Widerstrebende Liebe zwischen Mutter und Sohn

Stattdessen kriegt ihn seine Mutter herum, mit ihr für einige Wochen in ein nordfranzösisches Dorf zu fahren. Dort lernt er sie widerstrebend lieben. Denn auch sie, die nach dem Verlust einer Tochter sieben Monate lang in Starre verfallen war und ihren ebenso trauernden Sohn achtlos wegstieß und traumatisierte, zeigt ihm nun ihre Liebe. Doch ein Krebs zerfrisst die Mutter von innen. Der Sohn beginnt, sie zu pflegen - bis zu ihrem Tod am Ende des Sommers.
Ein Rührstück also, in dem aus Hass Liebe wird, als es bereits zu spät ist? Nichts weniger als das: Aleksy erzählt von allen Schicksalsschlägen vollkommen unsentimental. Allerdings ist das Buch noch nicht zu Ende: Aleksy verliebt sich, während seine Mutter abmagert, in Moira, ein junges Mädchen.

Künstlerische Traumabewältigung

Beide finden erst zueinander, als er ein Jahr nach dem Tod der Mutter zurückkehrt ins Dorf. Nach einigen glücklichen Jahren überlebt das Paar einen Autounfall, Aleksy jedoch ohne seine Beine, und die Liebe endet.
Aleksy malt nun großformatige Gemälde über den "Sommer, als Mutter grüne Augen hatte" und schreibt seine Erinnerungen auf. Die Gemälde machen ihn reich. Die Erinnerungen bilden den Roman, für den Tatiana Țȋbuleac, 1978 im moldauischen Chisinau geboren und seit 2008 als Journalistin in Paris lebend, bereits den Europäischen Literaturpreis erhalten hat.
Glücklicherweise konzentriert sich Țȋbuleac auf die Beziehung von Mutter und Sohn. Aleksys große Liebe, den sie beendenden tragischen Autounfall und den märchenhaften Reichtum durch die künstlerische Traumabewältigung schildert sie knapp und lässt zuweilen an Halluzinationen denken. Vielleicht werden nur in Aleksys verzerrter Selbst- und Weltwahrnehmung aus Hass Liebesgefühle, aus Schlägen Bilder und Worte.

Zweifel an der eigenen Urteilsfähigkeit

Der radikale Umschlag strukturiert den Roman, und auf das Christentum, das diesen liebt, wird recht subtil verwiesen, wenn ein Rapsfeld nach Weihrauch riecht. Ansonsten fehlen - bis auf Moira, den Namen der antiken Schicksalsgöttin - jedwede Verweise.
Tatiana Țȋbuleac betreibt die Umwertung aller Werte, in der Übersetzung von Ernest Wichner, lakonisch, unsentimental und sehr gegenwärtig. Von extremen Schicksalsschlägen lässt sie Aleksy so geschickt erzählen, dass man ihm gebannt folgt – um nach der mitreißenden Lektüre allerdings an der eigenen Urteilsfähigkeit zu zweifeln.
Im Rückblick mehren sich die Einwände. "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte", das Debüt von Tatiana Țȋbuleac, bietet von allem zu viel: zu viel Tragik, zu viel Euphorie, zu viel Unglück und Glück.

Tatiana Țȋbuleac: "Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte"
Aus dem Rumänischen von Ernest Wichner
Schöffling Verlag, Frankfurt am Main 2021
190 Seiten, 22 Euro

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