Tanja Maljartschuk über ihren Roman "Blauwal der Erinnerung"

Ein ukrainischer Held, der zum Verlierer wurde

Porträt der Schriftstellerin Tanja Maljartschuk.
Die Schriftstellerin Tanja Maljartschuk gewann 2018 den Ingeborg-Bachmann-Preis © dpa / picture-alliance
Moderation: Andrea Gerk · 15.02.2019
Mit "Blauwal der Erinnerung" hat Tanja Maljartschuk ein Buch über einen ukrainischen Volkshelden geschrieben. Am Ende verlor er fast alles. Die ukrainische Autorin gesteht, sie habe sich etwas in ihren Helden verliebt.
Andrea Gerk: "Blauwal der Erinnerung" heißt der neue Roman von Tanja Maljartschuk. Die Autorin dringt darin in die Geschichte des Landes ein, aus dem sie ursprünglich kommt, der Ukraine. Dort kam Tanja Maljartschuk 1983 zur Welt und hat dort auch nach dem Studium als Journalistin in Kiew gearbeitet. Seit 2011 lebt sie jetzt in Wien, und im Vorjahr hat sie für ihren Text "Frösche im Meer" den Ingeborg-Bachmann-Preis erhalten. Darin erzählte sie von einem jungen Flüchtling, der sich in eine alte demente Dame verliebt. In Wien bin ich jetzt mit Tanja Maljartschuk verbunden. Hallo, Frau Maljartschuk, schön, dass Sie da sind!
Tanja Maljartschuk: Ich freue mich auch! Guten Tag!
Gerk: Die Erzählerin in Ihrem Roman "Blauwal der Erinnerung", die hat einige unglückliche Beziehungen hinter sich. Sie leidet unter schweren Panikattacken und kann manchmal lange Zeit gar nicht aus dem Haus gehen. Dann stößt sie aber auf eine Figur, in der sie so eine Art Halt findet, und zwar den ukrainischen Volkshelden Lypynskyj. Wie sind Sie denn auf diesen Mann gekommen?
Maljartschuk: 2011 bin ich von Kiew nach Wien gezogen, und dann habe ich nicht verstanden, was ich gemacht habe. Und ich bin zu einer Immigrantin geworden. Ich habe gleich damit angefangen, ukrainische Spuren im Ausland zu suchen, und Wien war der beste Punkt dafür, weil 1918, 1920, nachdem in der Ukraine alle Unabhängigkeitsbewegungen gescheitert sind, viele Flüchtlinge, viele ukrainische Philosophen, Professoren, Schriftsteller, Ärzte und so weiter, die beteiligt waren in diesen Bewegungen. Sie mussten vor den Bolschewiken fliehen, und in Wien haben sie sich dann plötzlich alle wiedergefunden. Wjatscheslaw Lypynskyj, mein Protagonist, war einer darunter, ein Philosoph, ein Politiker, ein Historiker, ein hervorragender Mensch, der sehr viel geschrieben hat. Ich war während der Recherche wirklich fast in ihn verliebt. Das hat lange gedauert, mehrere Jahre zum Schluss. Ich habe schon geträumt von diesem Menschen, und er hat mir gesagt: Bitte lass mich in Ruhe, lass mich endlich in Ruhe! Er war ein Hypochonder, ein unerträglich Kompromissloser. Er hat alles geopfert für eine wahnsinnige Idee, einen Staat zu bauen zwischen Polen und Russland. Er wollte ein Zeuge sein. Er wollte alles tun, dass es passiert, obwohl er selbst ein Pole war, ein Adeliger, ein reicher Mann, aber in der Zeit waren seine Ideen viel zu utopisch.

"Sein Schicksal ist mir nahe"

Gerk: Und haben Sie sich deshalb so in ihn verliebt - wegen dieser irren Energie?
Maljartschuk: Ja, wissen Sie, eine Geschichte eines Helden, es ist leicht zu erzählen, aber nicht interessant, und eine Geschichte eines Verlierers, eines Versagers, da ist viel mehr drin. Ich weiß nicht, vielleicht ist mir sein Schicksal auch so nahe, eben weil ich zu einer Migrantin geworden bin. Er ist nie mehr zurück in die Ukraine gekommen, hat seine Heimat, sein Haus, alles, was er gehabt hat, verloren, seine Familie auch, er hat auf sie verzichtet, auch seine Frau. Das klingt ein bisschen pessimistisch.
Gerk: Aber er ist ja schon auch so eine Art Randfigur. Er stellt sich ja selbst da an den Rand seiner Familie. Das ist ja offenbar was, was Sie sehr fasziniert. Auch in Ihren anderen Büchern beschäftigen Sie sich mit sogenannten Randfiguren. Erleben Sie das selbst so, fühlen Sie sich auch so als am Rande stehend?
Maljartschuk: Nicht am Rande, sondern ich bin irgendwo dazwischen. Als ich die Ukraine verlassen habe, habe ich nicht verstanden, was ich gemacht habe, und erst jetzt, nach sieben Jahren, nach acht fast, verstehe ich, dass ich quasi auch die Ukraine verloren habe, und ich bin auch hier, also in Österreich, auch ein bisschen fremd. Ich werde auch hier nie wirklich zu Hause sein. Das ist ein Zustand, ich weiß nicht, das ist manchmal depressiv. Also manchmal erlebe ich so Krisen, aber auf der anderen Seite hat mich diese Erfahrung sehr bereichert. Ich habe die deutsche Sprache in sieben Jahren gelernt, ich habe angefangen, sogar ein bisschen zu schreiben auf Deutsch. Ich habe eine neue Kultur kennengelernt, ich kann deutsche Bücher selbst lesen. Es ist wunderschön. Es ist halt so, dass man irgendwo dazwischen bleibt. Also man ist nirgendwo mehr zu Hause, aber vielleicht ist die Sprache mein Zuhause, keine Ahnung.

"Angekommen in einem Dazwischen"

Gerk: Aber da sind Sie ja jetzt auch quasi in einem Dazwischen angekommen, denn jetzt dieser Roman wurde zwar übersetzt von Maria Weissenböck, aber "Frösche am Meer", wenn ich richtig informiert bin, haben Sie auf Deutsch geschrieben.
Maljartschuk: Ja, das ist meine erste Erzählung, die ich auf Deutsch geschrieben habe.
Gerk: Und dann haben Sie gleich so einen tollen Preis dafür bekommen. Offenbar sind Sie da auch schon ein bisschen angekommen dann im Deutschen.
Maljartschuk: Ja, genau. Es ist ein Glück, ein Wunder, weiß ich nicht!
Gerk: Aber Ihre Erzählerin, die leidet ja unter schweren Panikattacken, unter einer heftigen Lebensangst. Ist das auch eine Folge dieser Entwurzelung? Geht das gar nicht ohne Angst?
Maljartschuk: Diese Angst, das ist die Frage, woher kommt diese Angst. Ich habe versucht, das in diesem Buch selbst für mich zu verstehen. Es ist nicht nur, dass ich quasi entwurzelt wurde oder war. Es ist auch eine Folge all dieser Geschichten, Tragödien in der Geschichte meines Volkes, in der Geschichte meiner Familie. Ich erzähle das alles auch im Buch. Es geht um Hungersnot, von Stalin organisiert 1933. Das hat alles meine Familie erlebt. Ich könnte jetzt eigentlich reich sein und ein großes Haus haben in der Ukraine, aber das alles wurde meinem Urgroßvater weggenommen. Er musste seine Tochter im Waisenhaus lassen. Sie hat ihre Eltern nie richtig gekannt. Sie war erst vier Jahre alt. Danach kommt auch der Zweite Weltkrieg, danach kommt die Geschichte der aufständischen Armeen in der Ukraine, wo auch meine anderen Großväter beteiligt waren. Sie haben versucht zu überleben, sie nicht wirklich gekämpft. Aus dieser Scham, aus dieser Schande komme ich auch. Verstehen Sie, was ich meine? Sie haben nicht gekämpft, aber dafür haben sie überlebt, und deswegen bin ich auf die Welt gekommen. Diese Tragödien haben sicher etwas hinterlassen in mir, in meiner Geschichte, in meiner Weltanschauung.

"Ich werde immer Ukrainerin bleiben"

Gerk: Und wie schauen Sie heute auf die Ukraine? Wie stehen Sie da überhaupt im Kontakt zu Ihrem Heimatland?
Maljartschuk: Ich bleibe Ukrainerin, ich werde auch immer Ukrainerin bleiben. Ich bin oft dort in Iwano-Frankiwsk. Meine Familie lebt dort.
Gerk: Da kommen auch viele Schriftsteller her, erstaunlich viele: Jurij Andruchowytsch.
Maljartschuk: Taras Prochasko, Jurij Isdryk.
Gerk: Gibt es da eine richtige Szene, eine Literaturszene?
Maljartschuk: Sofija Andruchowytsch auch, seine Tochter. Ja, das ist so. Es ist eine Wunderstadt, eine wunderschöne kleine, provinzielle Stadt, aber hat etwas vielleicht, ich weiß nicht, eine Atmosphäre. Wissen Sie, in den 90er-Jahren, es war eine schöne Atmosphäre dort. Sehr arm, aber auf der anderen Seite viel Literatur. Literatur ist quasi auf die Straße gegangen dort. Ich war erstaunt selber. Ich würde vielleicht auch nie schreiben wollen, wenn ich nicht Jurij Andruchowytsch auf der Straße begegnet wäre.
Gerk: Und Sie haben auch Kontakt dahin?
Maljartschuk: Ja, wir sind Freunde.
Gerk: Tanja Maljartschuk, vielen Dank für dieses Gespräch!
Maljartschuk: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Tanja Maljartschuk: "Blauwal der Erinnerung"
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Maria Weissenböck
Kiepenheuer und Witsch, Köln, 2019
288 Seiten, 22 Euro

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