Tango trifft auf Wanderlied

Von Alexa Hennings · 18.10.2006
Früher lebte man in Carlsfeld vom Bandonion, das man jedoch Ziehkästel nennt. Das Carlsfelder Bandonion, besonders das vom Typ "Doppel A", eroberte nach argentinischen Hafenkneipen den Rest der Welt. Die Fabrik ist seit 40 Jahren geschlossen, und so kann man in Carlsfeld heute nur noch für das Ziehkästel leben. Besonders beim alljährlichen Bandonion-Treffen im Oktober, wo dann der Tango auf den Schneeschuhfahrermarsch trifft.
Carlsfeld im Oktober. Die kleine, runde Kirche, die so aussieht wie eine Kirche auf einer Weihnachtspyramide, ist bis auf den letzten Platz besetzt. Das kommt selten vor. Aber heute schon. Denn es ist Bandonionfestival. Als erstes tritt Herr Rotha vor den Altar. Schwarze Hose, eierschalenfarbene Jacke, rote Fliege. Sorgfältig breitet er ein rotes Samtdeckchen auf seinen Knien aus, setzt vorsichtig sein Instrument darauf und spielt.

Ich beginne mit meinem berühmten Verwandten, hatte Herr Rotha scherzhaft vorangestellt. Er spielt von Nino Rota die Titelmelodie aus dem Film "Der Pate". Und zeigt so gleich als erstes, was man mit dem Bandonion so alles machen kann. Denn Herr Rotha hat eine Devise:

"Mache Barock, mache Klassik, mach keine Kirmesmusik – das können die anderen machen! Und: Gehe keinen Schwierigkeiten aus dem Wege!"

Geschichten, wie jeder so zu seinem Bandonion kam, kann man in Carlsfeld viele hören. Herrn Rothas Geschichte geht so.

"”Vater war wieder einmal als Aktivist ausgezeichnet worden. Und früher gab es da Sachprämien. Beim ersten Mal hat er ein Fahrrad bekommen, beim zweiten Mal ein Fahrrad. Und schließlich, als er mal wieder dran war, hat der Kollege von der Gewerkschaft gesagt: Mensch, Erich, du hast doch nun schon fünf Fahrräder, hol doch mal für deinen Jungen ein Akkordeon! Da sind die losgelaufen ins Kaufhaus, und zum Glück gab es kein Akkordeon. So kam ich zum Bandonion. Und heute bin ich sehr, sehr dankbar.""

Nach Chopin, Bach und Beethoven in der Kirche wird im "Gasthaus zur Talsperre" zu Bier und Knödel die leichtere Muse serviert. Mal greift dieser, mal jener zum Bandonion und schnell wird eine richtige Session daraus. Die Herren vom Bandonion-Verein Carlsfeld, Spieler aus Taucha und Halle und Chemnitz greifen kräftig in die Tasten.

Herr Ziener im orangefarbenen Hemd mit dem gestickten Aufdruck "Bandonionverein Carlsfeld" ist in seinem Element. Seine Augen leuchten, während im Hintergrund gerade "Lady in Black" nahtlos in "Kalinka" übergegangen ist.

"Mein Onkel war ein Bandonionbauer und ein ganz, ganz hervorragender Bandonionspieler. Und das hat mich begeistert. Da wir aber nicht das nötige Geld hatten, um so ein Instrument zu kaufen, habe ich mich zu Hause als Achtjähriger hingesetzt und habe ein Kissen genommen. Und hab das auf und zugedrückt und dazu gesungen und gepfiffen. Und da hat meine Mutter gesagt: Da kann man ja nun nicht mehr zusehen, wie der Junge sich mit dem Kissen plagt! Kaufen wir ihm nicht eins?"

Aus dem Jungen mit dem Kissen wurde Gerhart Ziener - Diplomjurist, wie er anfügt. Seinem Ziehkästel von einst blieb er treu. Obwohl – Ziehkästel möchte er eigentlich nicht mehr sagen.

"”Früher hat man auch gesagt: Hol ´nr ´s Ziehkastl! Da war auch nichts Schlechtes dabei, wenn man gesagt hat Ziehkastl. Aber das ist nun wirklich überholt. Wenn man jetzt sagt: Bandonion – dann ist das was! Dann ist das was! Also, das ist kein Ziehkästel. Ziehkästel hat ä bissel Straßenschmutz an sich.""

Das Ziehkästel vom Straßenschmutz befreit hat der Tango. Darüber ist man sich in Carlsfeld einig – und man spielt ihn dort sogar, den Tango. Mitten im Erzgebirge. Denn als der Tango von den argentinischen Kneipen in die Konzertsäle kam, wurde damit auch das Bandonion geadelt. Jenes seltsame und schwer spielbare Instrument mit den vielen Knöpfen an jeder Seite und einem Balg zum Ziehen in der Mitte, das sonst kaum auf der Welt kaum einer spielte – außer eben in Carlsfeld und in Buenos Aires.

150 Jahre ist es her, da wurden in dem kleinen Erzgebirgsdorf die ersten Bandonions gebaut. Zimmermann hieß der Erfinder – ein Schild beim Carlsfelder Bäcker verweist darauf, dass "es" in diesem Hause geschah. Der Erfinder wollte aus der damals bekannten Konzertina ein Instrument mit größerem Tonumfang machen und baute das Bandonion. Und so steckt in der kleinen Quetschkommode, wie sie früher auch genannt wurde, der Tonumfang eines ganzen Klaviers. Den Namen bekam das Instrument dann von dem Mann, der es im großen Stil zu verkaufen wusste – vom Musikalienhändler Hermann Band aus Krefeld.

"Das Bandonion war das Klavier des kleinen Mannes. Er konnte sich das leisten. Und dieses Instrument ist von einem kleinen Mann zum anderen gegangen. Und dann ging man in die Kneipe hinein und hat gespielt. Und das hat der Band dann mitgekriegt, und die haben hier die Produktion gemacht und wollten ja einen Absatz haben, und der Band hat den Absatz organisiert. Deshalb hieß das dann Band – oneon. Manche sagen auch –nion. Das ist nie richtig geklärt: Solls nun -neon oder- nion heißen? Ist ja egal, jetzt heißt es jedenfalls Bandonion."

Und so schreiben sie es also mit "i", so wie früher. In Hochzeiten, das war in den 1920er Jahren, wurden verließen 600 Bandonions die beiden Fabriken der Brüder Arnold – 80 Prozent aller Instrumente gingen nach Südamerika, wo man das Erzgebirgsziehkästel für den Tango entdeckt hatte.

"Die früheren Bandonionvereine haben die Marschmusik und Tanzmusik gebracht. Und erst später kam ja die Tango-Variante. Das haben die nicht mehr so mitgekriegt. Die müssen wir machen. Die ist jetzt hier und wurde vor allen Dingen eben in Südamerika gespielt."

Der Tango ist jetzt hier. Statt Hafenkneipe Erzgebirge. Dass er dabei auf den Schneeschuhfahrermarsch trifft, ist keineswegs ein Stilbruch. Dem Tango lauscht man, den Marsch singt man mit. Alle sind textsicher, Herr Ziener natürlich auch.

Der ganze Saal singt und schunkelt mit. Doch komischerweise muss Herr Ziener gerade bei diesem Lied an den argentinischen Besuch denken, den die Carlsfelder vor ein paar Jahren hatten. Ein zehnköpfiges Bandonion-Orchester mit zwei Tanzpaaren war extra hierher zum Bandonionfestival gekommen.

"Die Argentinier, die hier gespielt haben, die sind direkt, ich will’s mal so sagen, Musikphilosophen. Die setzen sich hin und spielen eben ‚Jetzt sind wir am Strand’. Dann spielen die das und man fühlt das auch mit! Die haben auch getanzt, aber wie! Den Tango, die sind nur so über den Fußboden geschlichen! Das war wunderbar! Und dann wollten sie wissen, wo das erste Bandonion gebaut worden ist. Das Haus stand damals noch. Da kamen die da hin, wir haben sie durchs Dorf geführt und an das Haus gebracht. Und haben gesagt: So, jetzt sind Sie an dem Haus, in dem das erste Bandonion gebaut wurde. Da haben die Büchsen mitgebracht, Büchsen, Blechbüchsen, und einen Löffel, und haben von der Straße den Sand abgekratzt. Und sagen: Das müssen wir mitnehmen. Daran erkennt man diese Verbundenheit mit dem Instrument. Wir haben also erst mit dem Kopf geschüttelt, aber dann haben wir es begriffen. Es ist eben ein anderer Schlag, der nimmt das viel mehr in sich auf, dieser Schlag. Wir sind da, wie soll ich sagen, viel zu eckig gegenüber diesen Leuten."

Es ist weit nach Mitternacht, als die letzten Bandonions eingepackt werden. Morgen ist auch noch ein langer Konzerttag, nach Kirche und Gaststätte ist dann der "Grüne Baum" dran, der ganze Stolz des Dorfes. Der "Grüne Baum" ist ein Jugendstilsaal mit Bühne, der pünktlich zum Bandonionfestival restauriert wurde. Mehrere Jahre mussten die Musiker in der Turnhalle spielen. Doch ein Wermutstropfen ist in der Freude: Die alte Bandonionfabrik wurde abgerissen, denn beide Gebäude konnte die Gemeinde nicht sanieren und schließlich ist es seit mehr als 40 Jahren aus mit dem Bandonionbau in Carlsfeld. Oder doch nicht ganz? Denn es gibt ja Robert. Die Hoffnung von Carlsfeld.

Robert Wallschläger ist 22, gehört natürlich auch zum Bandonionverein und spielt den Tango am besten in Carlsfeld. Aber er ist kein professioneller Bandonionspieler – ein Fach, das man übrigens nur in Rotterdam, Paris, Madrid oder in Südamerika studieren kann – sondern Robert ist Bandonionbauer. Der erste und einzige nach der langen Pause von mehr als 40 Jahren. Robert lernte in einer Klingenthaler Werkstatt den Beruf des "Handzuginstrumentenbauers", sein Gesellenstück war ein Akkordeon, sein Meisterstück, das er jetzt in den Händen hält und spielt, ist ein Bandonion.

Wer heute ein Bandonion baut, muss tischlern können, Metall bearbeiten, den Balg anfertigen und zu guter letzt auch noch Stimmer sein. Früher waren das vier getrennte Berufe beim Bandonionbau in der Firma Arnold, wo das legendäre "Doppel A" produziert wurde. Robert musste alles allein können und erhielt dafür als erster Meister keinen einzigen Punktabzug in der Bewertung seines Instruments. Darauf ist ganz Carlsfeld stolz.

"Ich habe gedacht, ich will jetzt dieses Arnold-Instrument auch auf mein Bandonion übertragen – was die Griffspielweise betrifft. Aber was das Gestalterische und den Ton betrifft, sind dann die Ideen eingeflossen, die mir so während der Bauzeit eingefallen sind. Und hier sieht man auch auf der rechten Seite ein W wie Wallschläger, mein Nachname, dann sieht man hier Lorbeerblätter, die in einer Kreisform angeordnet sind und in der Mitte ist das Zeichen der Lyra. Und da ist auch so eine Aussägung, und da ist ein R drin, wie Robert."

Der Schatten des "Doppel A" das für "Alfred Arnold" steht, ist groß – aber der 22-Jährige ist mutig und setzt seine eigenen Insignien dagegen: R und W für Robert Wallschläger.

"Ich habe diese typische Stimmung, die auch die Argentinier haben, diese glatte Stimmung. Das heißt schwebungsfreie Stimmung. Und jetzt will ich mal zum Vergleich eine Schwebung einspielen, da nehme ich mir mal ein Instrument, was hier steht, damit man mal den Unterschied hört."

Robert holt eines der vielen alten Bandonions, die in der Regalen an der Wand stehen. Schon seit vielen Jahren sammelt Vater Wallschläger die Instrumente und hat sie nun nebst Glasprodukten aus Carlsfeld und andern Erzgebirgs-Instrumenten in seinem Haus ausgestellt.

"... das ist jetzt der gleiche Ton, bloß als Schwebeton. Wir sagen dazu: Es wabelt. Waa,wa,wa, - man kann es sich vorstellen."

Wabeln oder nicht wabeln – das ist eine der großen Fragen. Baut man für die Argentinier und ihren Tango, darf es jedenfalls nicht wabeln. Mit acht Jahren begann Robert Bandonion zu lernen, als er zwölf war, fuhr er mit dem Carlsfelder Bandonionverein nach Montevideo. Er musste dort sogar in Fernseh- und Radio-Shows auftreten – so ungewöhnlich war die erzgebirgische Bandonion-Musik für die Uruguayer, die nur den Tango gewöhnt waren. Dort lernten die Carlsfelder den Tango kennen und die argentinische Band, die sie später in ihrem Dorf besuchte. Und ganz sicher hat diese Reise und der Unterricht bei den argentinischen Musikern zu Roberts Entschluss beigetragen, einmal selbst Bandonionbauer zu werden.

"Man kann Stimmungen ausdrücken. Und das kommt beim Bandonion besonders. Man kann Freude und Traurigkeiten sehr stark ausdrucksvoll spielen. Und das macht das Bandonion auch besonders. Man kann die Töne – die Argentinier sagen: Man kann sie weinen lassen. Man kann sie aber auch lachen lassen."

Mit dem, was der junge Meister Robert Wallschläger kann, könnte er schon in die Welt ziehen. Bandonions bauen in Buenos Aires. Oder in Montevideo. Oder doch in Klingenthal? Oder vielleicht sogar in Carlsfeld, dem Geburtsort des Bandonions? Roberts Antwort ist salomonisch.

" »Naja, ich sag, ich bin 22 und alle Wege sind offen!""

Eher am Anfang seiner Bandonion-Karriere steht Roberts Bruder Richard. Einmal in der Woche kommt Herr Seidel zu ihm, Dieter Seidel, der 73-jährige einstige Bandonion-Stimmer, der auch Robert anlernte, damals, nach der Wende, als alles wieder losging mit dem Bandonionverein Carlsfeld.

Man merkt dem 16-jährigen Richard an, wie schwer es ihm fällt, das komplizierte Instrument zu erlernen. Kompliziert ist es vor allem deshalb, weil es wechseltönig ist – bei Ziehen des Blasebalgs muss also jeder Ton, jeder Akkord anders gegriffen werden, als beim Drücken des Balgs.

"Drum ist es auch ein ziemlich schwer zu spielendes Instrument. Und man muss immer wieder tichtig iben, iben iben. Man kann ja net off de Tasten gucken – beim Klavier kann ich auf de Tasten gucken, beim Akkordeon zur Not auch! Fang noch ä mal an bitte!"

Richard will da durch. Auch wenn die Kumpels grinsen und sein Richards Bandonion-Hobby als höchst altmodisch ansehen.

"Manche ziehen mich immer auf – aber ich mach mir nix draus. Manchen isses egal, manche wissen’s net mal. Ist besser so."

Herr Seidel begann nach dem Krieg als Stimmer in der Carlsfelder Bandonionfabrik zu arbeiten, die bald enteignet und dem VEB-Betrieb in Klingenthal zugeschlagen wurde.

"Und das ging bis 1964. Und dann haben die uns abgestoßen. Haben gesagt: Carlsfeld ist zu weit und haben uns abgestoßen. Dann hat uns ein anderer Betrieb übernommen aus Reichenbach, und dann haben wir Teil für diese Einspritzpumpen gebaut. Und das war das Ende der Musikindustrie hier in Carlsfeld."

Herr Seidel weiß es gar nicht mehr so richtig: War es die Trauer oder die Wut oder die Bequemlichkeit: Jedenfalls ging mit dem letzten Bandonionwerk auch das Bandonionspielen in Carlsfeld verloren. Ab und an hat Herr Seidel mal für seine vier Kinder zu Weihnachten was Erzgebirgisches gespielt – aber sonst nichts weiter.

"”Und als ich dann angefangen habe, den Robert Wallschläger anzulernen wieder, da musste ich praktisch selber wieder anfangen, die Schule hernehmen und musste mir das wieder aneignen, damit ich es weitergeben kann.""

Die Carlsfelder griffen nicht nur selbst zu den Instrumenten, sondern sie versuchten auch andere Bandoniongruppen und -spieler ausfindig zu machen und organisierten 1993 das erste Mal ein Bandoniontreffen in ihrem Dorf. Den richtigen Schub für die Bandonion-Begeisterung gab dann jedoch die Reise nach Montevideo und die Einladung der Argentinier und Uruguayer nach Carlsfeld.

"”Wir haben ja erst nach der Wende so richtig erfahren, was in Südamerika los war mit dem Bandonion. Das haben die Leute in Deutschland und hier in Carlsfeld gar nicht so richtig begriffen. Gerade der Herr Badus, der hat hier gespielt, und da hat er mittendrin aufgehört im Spielen. Und da sein ihm die Tränen runtergelaufen. Weil er das erste Mal in dem Ort sein konnte, wo sein Bandonion gebaut wurde. Und der kam hier bei uns rein, stellte sein Bandonion bei uns auf den Tisch und hat gesagt: Mein Baby, kommt nach Hause in den Ort, wo es geboren ist.""

Dieter Seidel genießt den Tango der Profis, aber seine Liebe, seine richtige Liebe hat immer noch eine andere musikalische Welt.

"Immer noch mei erzgebirgisches Zeug. Die erzgebirgischen Lieder. Das macht mir Spaß in dem Sinn."