Taiwan

Eine Insel und ihr großes Dilemma

23:14 Minuten
Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen auf einem Podium, neben ihr ist die Flagge Taiwans zu sehen.
Taiwans Präsidentin Tsai Ing-wen tritt der Volksrepublik China gegenüber selbstbewusst auf. © imago images / Hans Lucas
Von Carina Rother · 10.03.2021
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Taiwan ist eine selbstregierte, demokratische Insel. Aber die Volksrepublik China betrachtet sie als ihr Gebiet, droht bei formeller Unabhängigkeit mit militärischen Schritten. Trotzdem drängt die selbstbewusste Jugend auf nationale Selbstbestimmung.
Ein Feuchtgebiet am Rande Taipeis. Mit Feldstechern und Spiegelreflexkameras bewaffnet schieben sich rund 40 begeisterte Vogelbeobachter zwischen Feldern und Bambusstauden hindurch. Organisiert wird die wöchentliche Wanderung von der Taipeier Wildvogelgesellschaft.
Auch Dean Dai ist mit seiner Mutter dabei, nicht zum ersten Mal: "Es ist mein Hobby geworden. Wenn ich am Wochenende Zeit habe, laufe ich immer mit", erzählt er.
Der Sechstklässler nimmt seit der Grundschule an Vogelschutzaktionen teil, will Naturschutz studieren. Doch in Taiwan entkommt selbst der nicht der Weltpolitik: Der internationale Vogelschutzverband Bird Life International hatte Taiwans Wildvogelverband letztes Jahr ausgeschlossen.
Irgendwas mit China hatte das zu tun, Genaueres weiß der selbstbewusste Schüler nicht: "Warum hat so ein politisches Thema Einfluss auf den Naturschutz? Ich finde, das sollte nicht sein."
In dem Schriftverkehr, den Taiwans Wildvogelverband veröffentlicht hat, kritisiert Bird Life International Formulierungen im Online-Auftritt des Verbands. Dessen chinesischer Name, "Wildvogelverband der Republik China", verstoße gegen UN-Statuten zur Ein-China-Doktrin und stelle damit ein juristisches "Risiko" für die internationale NGO dar, hieß es.

Ausschluss aus dem internationalen Vogelbund

"Es war sehr verwirrend. Es hieß, dass wir ein Risiko wären, und wir wussten nicht, was das heißt. Bis heute wissen wir nicht, was dieses Risiko ist", sagt Scott Pursner.
Er ist Leiter für Internationale Angelegenheiten des Wildvogelverbands. Seit zehn Jahren hat sich der amerikanische Ökologe dem Vogelschutz in Taiwan verschrieben. In dem kleinen Büro in einer Taipeier Nebengasse ist man immer noch ratlos über das Vorgehen des internationalen Vogelbundes, der seinen Sitz in Großbritannien hat.
23 Jahre lang war Taiwan ein vollwertiges Mitglied. Schließlich forderte Bird Life International letztes Jahr die Unterzeichnung einer Erklärung, dass sich der Wildvogelverband nicht für Taiwans Unabhängigkeit einsetzen würde.
"Das war uns sehr unangenehm. Wir sind keine politischen Akteure, wir sind Naturschützer und Forscher. Wenn wir so etwas unterschreiben würden, könnte uns das hier sehr schaden, weil es außerhalb unseres Zuständigkeitsbereichs liegt", sagt Scott Pursner.
Mit Feldstechern und Spiegelreflexkameras bewaffnete Vogelbeobachter auf Tour
Vogelbeobachter am Rande Taipeis: Ihr Verband wurde zum Politikum.© Deutschlandradio / Carina Rother
Sie unterschrieben nicht. Im September 2020 folgte der Ausschluss aus dem wichtigsten weltweiten Vogelschutzverband. Scott Pursner und seine Kollegen fürchten nun, dass der Ausschluss die internationale Vogelschutzzusammenarbeit beeinträchtigen könnte.
Die meisten Teilnehmer der Taipeier Vogelwanderung sind von der Angelegenheit eher unbeeindruckt.
Hobby-Ornithologin Frau Lin sagt, man sei hier an so etwas gewöhnt: "Taiwan wird überall ausgeschlossen. Da kann man nichts machen. Das ist in allen Bereichen so. Aber wir Vogelbeobachter sprechen nicht über Politik. Das ist kein schönes Thema."

Kann es es nur "ein China" geben?

Tatsächlich ist der Vogelbund kein Einzelfall. Die Republik China – Taiwans offizieller Name – wird routinemäßig unsichtbar gemacht.
Taiwanesische Athleten dürfen nur als Vertreter von "Chinesisch Taipei" an internationalen Wettkämpfen teilnehmen. Wer mit der Lufthansa einen Flug nach Taipei bucht, fliegt nach "Taiwan, China". Internationale Organisationen wie die WHO schließen Taiwan aus, es sei ja durch China vertreten.
Im Februar bat zuletzt Bayern München um Verzeihung für einen "inakzeptablen Fehler": Die offizielle Fanseite hatte einen chinesischen Neujahrsgruß mit Taiwans Flagge gepostet. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Die Grundlage bildet stets die Ein-China-Doktrin. Bei Verstoß dagegen drohen Proteste, Boykotts und Sanktionen aus China.
Die Doktrin ist die zentrale Rechtfertigung für Chinas Anspruch auf Taiwan, erklärt Rita Jhang: "Nach dem Ein-China-Prinzip sagen sie: Es gibt nur ein China, und wir sind das wahre China. Taiwan hat früher auch gesagt: Nein, wir sind das wahre China. Und dann wurde hin und her gestritten."
Rita Jhang ist promovierte Kommunikationsforscherin und die Sprecherin der Grünen Partei in Taiwan. In dem vollgestellten Büro der alteingesessenen Randpartei bearbeiten sie und ihre Mitstreiter Umwelt- und Sozialthemen, aber auch Fragen zum Status des Landes.
Für sie ist die Sache klar: Taiwan ist Taiwan, China ist China. Aber völkerrechtlich bleibt es kompliziert. Die Grünen und andere Gruppen setzen sich daher für eine Klärung per Verfassungsänderung ein.
Rita Jhang posiert für ein Foto.
Für Rita Jhang ist die Sache klar: Taiwan ist Taiwan, China ist China.© Deutschlandradio / Carina Rother
Denn: "Die Beziehung zwischen China und Taiwan ist sehr komisch, weil wir auf dem Papier noch in einem Bürgerkrieg miteinander stehen. Ist es ein Bürgerkrieg oder ein Krieg zwischen zwei Staaten? Das ist sehr schwer zu sagen", meint Rita Jhang.

Taiwan wird unsichtbar gemacht

Die Trennung in zwei Chinas erfolgte 1949 nach einem Bürgerkrieg, den die Kommunisten gewannen. Jahrzehntelang diente die Ein-China-Doktrin der Exil-Regierung in Taiwan als Herrschaftslegitimation. Die USA hielten die Republik als "Freies China" gegen den kommunistischen Feind hoch – Bis in die 70er-Jahre, als sie von der Volksrepublik international als "wahres China" abgelöst wurde
Diplomatische Verbündete wechselten die Seiten: Die Vereinten Nationen verankerten das Ein-China-Prinzip per Resolution. Taiwan hat seither eine friedliche Demokratisierung durchlaufen, bleibt aber international isoliert.
Die andauernde Unsichtbarmachung des Landes unter der Ein-China-Doktrin sei gefährlich, findet auch Sachbuchautor und Journalist Chi Le-yi: "In der Welt entsteht der Eindruck: Taiwan ist ein Teil Chinas. Und wenn China militärische Schritte gegen Taiwan ergreifen sollte, dann ist das ein innenpolitischer Vorfall und kein Krieg. Dann greift das internationale Kriegsrecht nicht."
Militärische Schritte drohen im Fall von "formellen Unabhängigkeitsbestrebungen Taiwans", erklärt Chi. So wolle es Chinas Anti-Abspaltungsgesetz aus dem Jahr 2005. Seit vier Jahrzehnten beschäftigt sich der 68-Jährige mit Chinas Militärstrategie.

Militärübungen in der Taiwanstraße

Heute referiert er auf einem Forum der Nationalen Politikstiftung zu der Frage, wie hoch die Gefahr eines chinesischen Angriffs auf die Insel ist. Der Saal ist bis auf den letzten Platz mit Pressevertretern besetzt.
Die Angst vor einem militärischen Konflikt kochte im letzten Jahr hoch, als China seine Militärübungen in der Taiwanstraße stark erhöhte. Damit unterstreicht die KP China ihre Position: Nur durch den Anschluss Taiwans könne Chinas territoriale Einheit wiederhergestellt werden, die von "imperialen Mächten", namentlich Amerika, zerstört worden sei.
Tatsächlich sei das Interesse an der Insel vor allem geostrategisch, meint Chi Le-yi:
"Das Südchinesische Meer, das Ostchinesische Meer und die Taiwanstraße sind durch Taiwan getrennt. Wenn China Taiwan besetzt, würden die drei Meere zu einem vereint. Chinas Grenze würde sich um 500 Kilometer nach vorne verschieben."

Zwischen zwei Großmächten

Die USA inszenierten sich als Taiwans Schutzmacht, um ihre strategische Vormachtstellung im Asienpazifik zu behaupten. Ob sie im Konfliktfall tatsächlich zu Hilfe kämen? Das wisse hier keiner, sagen die Verteidigungsforscher. Sie kommen zu dem Schluss: Die jüngsten militärischen Aktivitäten sind Symptome zunehmender Konkurrenz zwischen den beiden Großmächten.
Ein Angriff auf Taiwan bleibe weiterhin unwahrscheinlich, denn: Die Folgen wären nicht abzusehen. Und China habe andere effektive Methoden, um Taiwan zu binden – von wirtschaftlichen Anreizen über Einschüchterung bis zum sogenannten Renzhi Zhan, dem "Anerkennungskrieg":
"Anerkennungskrieg ist Fake News, Diskurskrieg, psychologischer Krieg", sagt Chi Le-yi. "Er wird ohne Feuer und Kanonen gefochten. Deswegen ist die Bevölkerung nicht sonderlich alarmiert. Das Ziel ist, die Regierung und das Volk zu spalten. In letzter Konsequenz soll er die Taiwanesen davon überzeugen, dass Verteidigung keinen Sinn hat, und man sich auf die USA nicht verlassen kann."

Nur wenige wollen Vereinigung mit China

Chinas riesiger Markt und der steigende Einfluss der chinesischen Unterhaltungsindustrie tun ihr Übriges. Gerade für Popstars aus Taiwan gilt: Wer in China erfolgreich sein will, sollte Flagge zeigen – für China. Bei Taiwans Heranwachsenden sei es inzwischen cool, in chinesischem Akzent zu sprechen – wie ihre Idole. Das berichtet Rita Jhang von den Grünen.
Die 36-Jährige beobachtet gleichzeitig aber noch einen anderen Trend: Die Zahl derer in Taiwan, die sich als Chinesen verstehen, ist auf einem historischen Tiefststand. Laut einer Umfrage der Nationalen Chengchi Universität wollen nur noch knapp acht Prozent der Befragten eine Vereinigung mit China. 54,6 Prozent wünschen sich langfristig die Unabhängigkeit des Landes. Jetzt schon stehen immer mehr junge Leute für ihre Identität als Taiwanesen offen ein.
Wie Frau Hung, die im Februar nach Oberösterreich gezogen ist: "Ich saß noch in Quarantäne und bat eine Freundin, für mich zum Meldeamt zu gehen. Sie kam zurück mit einem Meldezettel, auf dem stand, dass meine Staatsangehörigkeit chinesisch ist und das Ausstellungsland meines Passes China."

Die Option "Taiwan" gibt es nicht

Die 30-jährige Angestellte einer österreichischen Firma hatte dasselbe Problem schon bei einem früheren Studienaufenthalt in Deutschland: "Die Leute dort sagen dir einfach: Tut mir leid, die Option 'Taiwan' gibt es nicht. Und dann fangen sie an zu diskutieren und sagen: Auf Ihrem Pass steht Republik China."
Sie teilte ihre Erfahrung online, das Problem war bekannt. Es kostete drei Behördengänge und ein Telefonat, bis die österreichische Mitarbeiterin auf dem Meldezettel manuell "Taiwan" eintrug. Das war ihr wichtig. Denn Frau Hung hofft, dass sich Taiwan irgendwann aus dem Griff des autoritären Chinas befreit:
"Ich wünsche mir einfach, dass mein Land weiterhin demokratisch bleiben kann", sagt sie. "Ich hoffe, dass meine Kinder einmal mit Stolz sagen können, dass sie aus Taiwan kommen, nicht aus China."

Reisepass mit neuem Design

Damit Taiwanesen in der Welt leichter erkennbar sind, hat die Regierung vor Kurzem ein neues Reisepassdesign eingeführt: Da steht jetzt ganz groß "Taiwan" – Nicht mehr "Republik China".
Zwei Hände halten taiwanesische Reisepässe in altem und neuem Design nebeneinander.
Das Design des Reisepasses von Taiwan hat sich geändert.© Deutschlandradio / Carina Rother
In dem belebten Konsularbüro in Taipei holt Herr Fan gerade den neuen Pass ab. Ihm ist das veränderte Design offenkundig egal. Der 56-Jährige gehört zu einer Generation in Taiwan, der die chinesische Identität noch von der Propaganda eingebläut wurde – selbst, wenn die Menschen keinerlei Verwandtschaft in China hatten. Herr Fan hat aber Familie dort, sein Vater kam im Bürgerkrieg vom Festland nach Taiwan.
"Natürlich habe ich das Gefühl, dass sie meine Landleute sind", sagt er. "Als China gerade aufmachte, haben wir sie immer zum Neujahrsfest angerufen und ein bisschen geplaudert. Da war es noch lockerer. Jetzt ist alles so streng, da traut man sich gar nichts mehr sagen."

Nach Protesten in Hongkong wächst die Sorge

Früher habe er noch mit einer Vereinigung geliebäugelt, erzählt der Frührentner. China schien so mächtig, so erfolgreich. Aber spätestens seit der Niederschlagung der Proteste in Hongkong habe er Taiwans Demokratie richtig zu schätzen gelernt.
Wie viele in Taiwan verärgern auch ihn Chinas Militärübungen: "Ich frage mich ehrlich, was die sich denken. Wenn du dieses Land willst, dann musst du dich doch mit den Leuten gut stellen. Du kannst ihnen doch nicht mit dem Gewehr gegenüberstehen und ihnen drohen: Dieses darfst du nicht sagen, jenes darfst du nicht machen. Damit schiebst du die Menschen doch von dir weg."
Die Kommunikationsforscherin Rita Jhang findet: "Der beste Ausweg wäre, wir erkennen das Ein-China-Prinzip an, und zwar: Auf der einen Seite ist China, auf der anderen Seite ist Taiwan. Wir spielen das Spiel nicht mehr mit."
So ein Schritt würde womöglich einen Angriff Chinas provozieren. Die meisten in Taiwan wollen das nicht riskieren. Ihr Antrag auf ein Referendum zur Verfassungsänderung wurde im Februar bereits abgelehnt, berichtet die Grünen-Sprecherin.
"Es gibt immer Leute, die sagen: 'Just don’t poke the bear.' Der Bär bedroht mich zwar, aber solange er noch nicht beißt, lassen wir die Sache in Ruhe", sagt Rita Jhang. "Viele Leute sind dafür, dass wir den Status quo aufrechterhalten. Das ist ein breiter Konsens in Taiwan, und auch die Linie von Präsidentin Tsai Ing-wen."
Tsais Status quo bedeutet: selbstbewusstes Auftreten gegenüber China, taktische Akzeptanz der völkerrechtlichen Grauzone – mit all ihren Gefahren. 2020 wurde die Präsidentin mit einer historischen Mehrheit wiedergewählt.

"Unser Name ist Republik China, Taiwan"

Die Frage nach Unabhängigkeitsbestrebungen umgeht sie in einem BBC-Interview gekonnt: "Wir müssen unsere Unabhängigkeit als Staat nicht erklären. Wir sind schon einer. Und unser Name ist Republik China, Taiwan."
Diese Realität müsse die Basis für Dialog mit Peking bilden, beharrt Tsai. Solange sie die Ein-China-Doktrin nicht akzeptiert, wird es weiter keine Gespräche geben, hält Peking dagegen. Eine Patt-Situation mit strategischem Nutzen für China. Für die Taiwanesen bedeutet das, kein Ende in Sicht im Kampf um Anerkennung.
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