Tagebuch aus Aleppo (Teil 6)

"Heimat? Du bist ein Teil davon"

Ein kleiner, ängstlicher, syrischer Junge steht halb in der Knie in einem verlassenen Haus in Aleppo in Syrien. Viele Familien mussten ihr Zuhause verlassen, weil sie entweder in der Nähe von einem militärischen Flugstützpunkt wohnten oder weil ihre Häuser zerbombt wurden.
Ein kleiner, ängstlicher Junge in einem verlassenen Haus in Aleppo © Imago / PuzzlePix
Von Julia Tieke · 28.12.2015
Die Proteste in Syrien begannen friedlich - inzwischen herrscht Krieg. Die achtteilige Serie "Tagebuch aus Aleppo" des syrischen Exilsenders "Radio Rooh" und Julia Tieke fängt persönliche Berichte junger Syrer aus der umkämpften Stadt ein: Drei Menschen erzählen von ihrem Alltag im Krieg.
Fajer: "Wer aus Syrien kommt, fühlt, dass Syrien ein besonderer Ort ist. Für mich ist es nicht einfach nur eine Heimat. Hier kann man alles finden. Wirklich! Warum? In Syrien haben die Menschen ein besonderes Gemüt, es gibt einen besonderen Geschmack. Das merken wir hier nicht, aber wenn man Syrien verlässt, dann merkt man es."
In Berlin sitze ich am Schreibtisch und schicke Fragen nach Gaziantep, in der Südtürkei. Dort lebt Haytham, der den kleinen syrischen Sender Radio Rooh betreibt. Immer wieder geht er auch in seine Heimatstadt Aleppo, mitten ins Kriegsgebiet. Dorthin nimmt er meine Fragen mit. Es gibt ein Sprichwort: "Jeder hat zwei Heimaten – seine eigene und Syrien." Kann Syrien ein Zuhause für alle sein?
Mahmoud: "Heimat? Du bist ein Teil davon. Die Nation ist die Gesellschaft, die eine Hand ist, ein Herz, ein Wort. Das ist Heimat. Aber jetzt leben wir alle verstreut."
Sobhi: "Syrien war unser Zuhause und wird es immer sein, die Liebe zu Syrien läuft durch unsere Adern. Jetzt wollen wir alle raus, wegen der Ereignisse, aber wir wissen, dass uns die Nostalgie umbringen wird."
Mahmoud: "Syrien ist unsere Seele, und Aleppo ist Syriens Seele. Die Industrie ist hier, das Geld. Aleppo ist bekannt für Literatur und Kultur, es ist die Hauptstadt der islamischen Kultur. Nach der Krise (lacht), nach der Krise wird Aleppo wieder eine Heimat für alle sein, für ganz verschiedene Menschen. So Gott will, werden wir nach der Krise zurückkehren. Jetzt sind alle vertrieben und obdachlos gemacht worden. Einige sind in der Türkei, andere im Libanon, einige wurden auch von dort vertrieben, andere sind nach Saudi-Arabien gegangen, waren dort nicht willkommen, dann sind sie weiter nach Griechenland."
Sobhi: "Die Leute haben immer gesagt, dass sich die Syrer gegenseitig wie Brüder und Schwestern behandeln, dass wir alle gleich sind, sozial und religiös, dass wir Fremden begegnen, als seien auch sie unsere Schwestern und Brüder. Das war früher so. Jetzt haben die Syrer selbst kein Zuhause mehr und vertrauen niemandem. Die Idee eines Zuhauses in Syrien ist gestorben. Wir haben keine Sicherheit und jegliche Bedeutung verloren. Wir leben ja kaum."
Fajer: "Die Syrer haben eine sehr schöne internationale Kultur, sie lieben die ganze Welt. Und die ganze Welt liebt sie. Sie haben das Gefühl zur ganzen Welt zu gehören und zur Zukunft der Welt beizutragen, materiell und geistig. Darum sind die Syrer im Ausland auch häufig erfolgreich. Und das wird auch wieder so sein, wenn das Land geheilt ist, der Krieg vorbei ist. Die ganze Welt wird sich Damaskus und Syrien zuwenden – die ganze Welt."
Sobhi: "Es gibt kein Syrien mehr. Wir haben es zerstört. Das Leben, das wir jetzt führen, kann nicht als Leben bezeichnet werden."
Mahmoud: "Alle haben Syrien verlassen, sind weggegangen, und das ist ein Fehler. Wir müssen in Syrien bleiben. Mehr als alles andere wollen sie uns aus Aleppo vertreiben und dann unsere Häuser übernehmen, neue Leute ansiedeln."
Sobhi: "Egal, wie viel Hass und Zerstörung es in Syrien gibt, unser Land wird immer in unseren Herzen bleiben, über der Familie stehen, über allem. Wir wollen von Euch kein Mitleid, wir wollen echte Taten. Empfindet nach, wie wir leben! Das Leben ist für Syrer und speziell für Menschen in Aleppo sehr miserabel geworden. Es gibt für uns keine Gründe mehr zu leben. Ich wünschte, die Leute würden anfangen was zu verändern. Und nicht nur rumsitzen und zuhören."

Serie "Tagebuch aus Aleppo" - in acht Teilen

Drei junge Menschen aus Aleppo und Umgebung beschreiben ihren Alltag in Ton und Text. Der syrische Radiokollege Haytham Kabbani des Exilsenders "Radio Rooh" mit Sitz im türkischen Gaziantep hat das Material gesammelt und an die Autorin Julia Tieke geschickt.

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