Tagebuch aus Aleppo (Teil 5)

"Wir sind alt geworden"

Von Julia Tieke · 23.12.2015
Die Proteste in Syrien begannen friedlich - inzwischen herrscht Krieg. Die achtteilige Serie "Tagebuch aus Aleppo" des syrischen Exilsenders "Radio Rooh" und Julia Tieke fängt persönliche Berichte junger Syrer aus der umkämpften Stadt ein: Drei junge Menschen aus Aleppo erzählen von ihrem Alltag im inzwischen über drei Jahre anhaltenden Krieg.
Sobhi: "Alle sind sehr schnell erwachsen geworden, sogar die Sechsjährigen verstehen, wie schwer es geworden ist. Jeder Einzelne in Syrien ist jetzt so verantwortlich, als sei er ein 60 Jahre alter Mann. Wir sind alt geworden."
In Berlin sitze ich am Schreibtisch und schicke Fragen nach Gaziantep, in der Südtürkei. Wer ist verantwortlich für die Situation in Syrien? Was ist Verantwortung? Wie fühlt sie sich an? Für wen bist Du verantwortlich? Dort lebt Haytham, der den kleinen syrischen Sender Radio Rooh betreibt. Immer wieder geht er auch in seine Heimatstadt Aleppo, mitten ins Kriegsgebiet. Dorthin nimmt er meine Fragen mit.
Fajer: "Für die Situation in Syrien ist vor allem der Staat verantwortlich, weil er nicht klug handelt. Der Staat."
Sobhi: "Wer ist verantwortlich für die Situation in Syrien? Ich würde sagen alle. Die Regierung einerseits, die Bevölkerung andererseits - wir, die ganz normalen Leute. Wir haben die Gunst, in der wir vorher gelebt haben, nicht wert geschätzt und uns zugleich gegenseitig und selbst unterdrückt."
Mahmoud: "Das Regime macht keine Reformen, und die Freie Syrische Armee hat nichts verändert. Wir haben Freiheit gefordert, eine Veränderung des korrupten Systems - und es dann von der Freien Armee zurück bekommen. Die sind auch korrupt. In der Krise erhöhen die Händler die Preise und die Leute werden ärmer und verrückter."
Fajer: "Verantwortung – das heißt für mich, nicht auf jemanden zu warten, sondern meine Aufgaben zu erledigen, für mich selbst verantwortlich zu sein."
Mahmoud: "Zuvorderst bin ich für meine Familie verantwortlich. Es gibt keine Arbeit, alle haben ihre Jobs verloren. Ich muss Verantwortung übernehmen, arbeiten, Essen besorgen, mein Leben leben und an die Zukunft denken. Die Familie, das ist meine größte Verantwortung. Sie lastet auf meinen Schultern."
Sobhi: "Vor den Ereignissen wusste ich nicht, was Verantwortung bedeutet. Ich habe sorgenfrei gelebt, ohne irgendeine Verantwortung. In den Tag hinein. Mit Freunden ausgehen – das war's."
Fajer: "Ich bin jetzt für mich selbst verantwortlich, und für meinen Glauben, den Islam. Wir müssen das wahre Bild des Islam zeigen, und das ist schwierig. Das ist eine sehr große Verantwortung. Ich will bekannt machen, dass Islam nicht Terrorismus und Mord bedeutet. Ich sehe den Glauben als persönliche Verantwortung, für jeden, und ein Moslem muss den Islam in seinem Leben widerspiegeln. Ich persönlich messe den Glauben an der individuellen Verantwortung, die man für sich selbst und im Umgang mit anderen übernimmt."
Mahmoud: "Verantwortung ist es, sie für alle zu übernehmen, für andere, nicht nur für dich selbst. Ich zum Beispiel, ich danke Gott für meine eigene Situation, aber ich muss mich auch für andere interessieren. Dein Zuhause, dein Bruder, die Gesellschaft – alles. Das ist Verantwortung. Sie ist ganz schön schwierig."
Sobhi: "Früher habe ich mich für mich selbst verantwortlich gefühlt, aber jetzt habe ich das Gefühl, für jeden Verletzten in diesem Land verantwortlich zu sein, für jeden! Von den Leuten, die in den Straßen schlafen bis zu den Flüchtlingen, die ihre Häuser in diesem Krieg verloren haben. Obwohl wir nicht viel tun können, fühlen wir uns alle verantwortlich."

Serie "Tagebuch aus Aleppo" - in acht Teilen
Drei junge Menschen aus Aleppo und Umgebung beschreiben ihren Alltag in Ton und Text. Der syrische Radiokollege Haytham Kabbani des Exilsenders "Radio Rooh" mit Sitz im türkischen Gaziantep hat das Material gesammelt und an die Autorin Julia Tieke geschickt.

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